Aus fernen Zeiten … und doch ganz im Heute
Unser ältester Sohn ist in den kommenden Tagen in London. Eine länger geplante Reise, das Hotel vor Wochen gebucht. Gut so, denn wer kommendes Wochenende in der britischen Hauptstadt ein Hotelzimmer sucht, wird es schwer haben. Und klar: Nächsten Montag will er sich an den Straßenrand stellen, um den Trauerzug mit dem Sarg der Queen zu sehen.
Handybilder hat er uns auf jeden Fall schon mal versprochen. Mal sehen, ob es ihm gelingt. Millionen von Menschen – so wird nämlich vorausgesagt – werden unterwegs sein. Die Begräbnisfeierlichkeiten werden in ihren Dimensionen – auch das ist zu lesen – selbst die Beerdigung von Papst Johannes Paul II. im April 2005 sprengen. Ein globales Ereignis, in jeder Hinsicht!
Das britische Empire ist längst vergangen, die reale Macht liegt bei anderen und das höfische Zeremoniell wirkt wie aus fernen Zeiten.
Wenn ich die Berichterstattung der letzten Tage verfolge, habe ich zwei Vermutungen, warum das so ist (kleiner Sidestep: Wie erklärt sich trotz aller Krisen die Faszination, die vom Papst und dem Papstamt ausgeht, gerade bei Menschen, die nicht katholisch sind?). Zum einen geht es um Stabilität und Verlässlichkeit.
Dafür stand die Queen – 70 Jahre lang. Wie viele Krisen gab es in diesen Jahrzehnten, wie viele Kriege und Katastrophen, wie viele politischen und sozialen Transformationen haben die Menschen in Großbritannien erlebt! In all diesen Veränderungen war die Queen der ruhende Pol. Was auch passierte, sie war immer da – und wenn nicht immer in der direkten Ansprache an ihr Volk, so doch allein schon als Porträt auf der Pfundnote oder auf Briefmarken. In unübersichtlichen Zeiten war sie für viele Menschen auf der Insel Orientierungs- und Ankerpunkt.
Zum anderen geht es um Schönheit und Stil. Ganz ohne Frage: Es gab und gibt die dunklen und so gar nicht glanzvollen Seiten der royalen Familie. In der Rückschau auf die Regierungszeit der Queen ist das auch wieder Thema. Und natürlich sind der Pomp des höfischen Zeremoniells und die damit verbundene Ästhetik Geschmackssache. Aber der Glanz der königlichen Inszenierungen fasziniert offensichtlich viele Menschen – und stillt zugleich ein Bedürfnis nach Schönheit und Stil gerade in „glanzlosen“ Krisenzeiten, wie wir sie aktuell erleben. Nächsten Montag werden wir das wieder eindrucksvoll sehen.
Die Begräbnisfeierlichkeiten werde ich nächste Woche nicht live im Fernsehen verfolgen können, weil ich arbeite. Vielleicht schaue ich abends mal in die Nachrichten. Und außerdem: Livebilder bekomme ich ja sowieso von meinem Sohn!