Wächter, wie spät ist es in der Nacht? (Jesaja 21,11)

In allen Texten dieses Wortgottesdienstes spielt die Nacht eine wichtige Rolle: ‘Nacht’ als Zeit der Frage bei Jesaja, des Wartens im Psalm, des Aufstehens bei Paulus und des Entgegengehens bei Matthäus. Auch wenn dieses zentrale Wort im Psalm selbst nicht ausdrücklich vorkommt, so ist doch die Sache in der Person des auf den Morgen wartenden Nachtwächters vorhanden. Im Kehrvers kommen die Länge der Nacht die Sehnsucht nach dem Morgen zur Sprache.
Aus der Aussage wird ein Gebet, in dem Liebe und Sehnsucht, aber auch Frage und Klage bis hin zur Anklage mitschwingen: Wie lange noch?– Warum?


Die Mitte der Nacht

ist der Anfang des Tages.

Bild: René Margritte, L’Empire des lumières – Das Reich der Lichter  1954
Öl auf Leinwand, 195,4×131,2
The Solomon R. Guggenheim Foundation /  Peggy Guggenheim Collection Venedig

>> zum Bild:  Reich der Lichter


Alttestamentliche Lesung: Jesaja 21, 11-12

Ausspruch über Edom. Aus Seïr ruft man mir zu:
Wächter, wie lange noch dauert die Nacht?
Wächter, wie lange noch dauert die Nacht?
Der Wächter antwortet:
Es kommt der Morgen, es kommt auch die Nacht.
Wenn ihr fragen wollt, kommt wieder und fragt!

Kehrvers:

Die ganze Nacht wartet meine Seele auf dich. (Psalm 130,6)

Psalm 130, 1-8

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir:
Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu,
achte auf mein lautes Flehen!
Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten,
Herr, wer könnte bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung,
damit man in Ehrfurcht dir dient.
Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele,
ich warte voll Vertrauen auf sein Wort.
Meine Seele wartet auf den Herrn
mehr als die Wächter auf den Morgen.
Mehr als die Wächter auf den Morgen
soll Israel harren auf den Herrn.
Denn beim Herrn ist die Huld,
bei ihm ist Erlösung in Fülle.
Ja, er wird Israel erlösen
von all seinen Sünden.


Neutestamentliche Lesung:

Römerbrief 13, 11-14

Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.
Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht. Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an und sorgt nicht so für euren Leib, dass die Begierden erwachen.

Ruf vor dem Evangelium

(Matthäus 25,6)

Um Mitternacht erscholl der Ruf: Seht, der Bräutigam kommt. Auf, ihm entgegen!

Evangelium: Matthäus 25, 1-13

Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit.
Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein.
Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht.
8Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Die klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht.
Während sie noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal und die Tür wurde zugeschlossen. Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.
Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.


Lied: Wachet auf, ruft uns die Stimme – Philipp Nicolai 1599

„Wachet auf,“ ruft uns die Stimme
Der Wächter sehr hoch auf der Zinne,
„Wach auf du Stadt Jerusalem!“
Mitternacht heißt diese Stunde;
Sie rufen uns mit hellem Munde:
„Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Wohlauf, der Bräutgam kommt,
steht auf, die Lampen nehmt!
Halleluja!
Macht euch bereit zu der Hochzeit,
Ihr müsset ihm entgegengehn!“

Zion hört die Wächter singen,
Das Herz tut ihr vor Freude springen,
Sie wachet und steht eilend auf.
Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig,
von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig;
ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.
„Nun komm, du werte Kron,
Herr Jesu, Gottes Sohn!
Hosianna!
Wir folgen all zum Freudensaal
Und halten mit das Abendmahl.“

Gloria sei dir gesungen
Mit Menschen- und mit Engelzungen,
mit Harfen und mit Zimbeln schön.
Von zwölf Perlen sind die Tore,
an deiner Stadt; wir stehn im Chore
Der Engel hoch um deinen Thron.
Kein Aug hat je gespürt,
Kein Ohr hat mehr gehört
solche Freude.
Des jauchzen wir und singen dir
das Halleluja für und für.

 

Gotteslob 554, 1-3

 

 

 

 

Literaturhinweis: Bernhard Welte, Das Licht des Nichts. Von der Möglichkeit neuer religiöser Erfahrung, Düsseldorf 1980.
Andreas Wollbold, Therese von Lisieux. Auf dem kleinen Weg, Kevelaer 2012.

 

Geistlicher Text: Es wird sein die Dunkelheit Gottes – Hansjakob Becker

„Die Not des Beters besteht in der Abwesenheit Gottes“ (Sedlmeier), die die Mystiker als ‚dunkle Nacht‘ und Martin Buber als ‚Gottesfinsternis‘ bezeichnet haben. Die „Erfahrung, überhaupt keine religiöse Erfahrung zu machen, also von so etwas wie Gott nicht berührt, nicht getroffen und schon gar nicht verwandelt zu werden“, diese „Erfahrung des Nichts“ ist die „Grunderfahrung unseres Zeitalters“ und die „Grundlage aller Formen des modernen Nihilismus“. Sie taucht auf „nicht nur im Zusammenhang des des Denkens…, sondern auch .. in ausgesprochen religiösem Kontext“. So spricht Thérèse von Lisieux davon, dass, wenn sie an Gott denke, Finsternis sie umgebe, die das Herz ermüde: „…alles ist entschwunden! Such ich Ruhe für mein durch all die Finsternis ringsum ermattetes Herz in der Erinnerung an das lichtvolle Land, nach dem ich mich sehne, so verdoppelt sich meine Qual; die Stimme der Sünder annehmend, scheint die Finsternis mich zu verhöhnen und mir zuzurufen: >Du träumst von dem ewigen Besitz des Schöpfers all dieser Wunderwerke, du wähnst eines Tages den Nebeln, die die umfangen, zu entrinnen! Nur zu, nur zu, frei dich über den Tod, der dir geben wird nicht, was du erhoffst, sondern eine noch tiefere Nacht, die Nacht des Nichts.<“

Dabei „ist das Nichts zu erfahren, etwas ganz anderes … als überhaupt nichts zu erfahren. Wer das Nichts erfährt, der macht wirklich eine Erfahrung, ihm begegnet etwas, was ihn betrifft, erschüttert und verwandelt … Wo wir dieses Nichts anzublicken wagen, da können wir etwas spüren und erfahren von Unendlichkeit und Unbedingtheit. … Das Nichts schweigt, ja es ist das Schweigen selbst, obwohl es uns bewegt und erschüttert. Dieses Schweigen aber ist in höchstem Maße zweideutig … Es gibt merkwürdige und wichtige Zeugnisse dafür, dass die Erfahrung des Nichts und des Dunkels sich in eine religiöse Erfahrung verwandeln und umwenden kann, in das Vertrauen auf den dunklen Gott“. So hat auch das Dunkel seine Kehrseite: „Ich sagte zu meiner Seele: Sei still – laß das Dunkel kommen über dich. Es wird sein die Dunkelheit Gottes.“
Man kann den Morgen nicht machen, sein Kommen nicht beschleunigen, man kann ihn nur er-warten. Wer sich der Nacht aussetzt, der bekommt ihre Dunkelheit und ihr Nicht-enden-Wollen am eigenen Leib zu spüren. Aber: Alle Nacht hat ein Ende, mehr noch: ‚die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages‘.

„Der Kehrvers Die ganze Nacht warte ich auf dich ist ein biblisches Wort, das in seiner Unscheinbarkeit ganz dem entspricht, was Kassian über das Glutgebet sagt: „Diese … Formel soll das Gemüt unablässig festhalten, bis es, durch ihre unaufhörliche Anwendung und stete Pflege gestärkt, den Reichtum und Besitz der vielen Gedanken gänzlich verwerfe und so durch die strenge Armut dieses Verses zu jener Seligkeit des Evangeliums … gelange, die unter allen Seligkeiten die erste ist. ‚Selig‘ sagt er ja, ‚sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich‘.“
Wo ein solches Glutgebet singend verinnerlicht wird, wird eine Grundhaltung des GlaubensGlaubens eingeübt: Glaube als „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr 11,1), Hoffen und Warten – auch und gerade in der Nacht.

Hansjakob Becker, Zur Bedeutung des Psalmengesangs im Wortgottesdienst der Messe, in: Werner Simon (Hg.), meditatio. Beiträge zur Theologie und Religionspädagogik der Spiritualität, Münster 2002.


Zusammenstellung: Hans-Jakob Becker / Anne-Madeleine Plum Dieser Gottesdienst:  1 Adv D in Patmos Vgl. dazu ausführlich: Hansjakob Becker, „Dies große Wort, geschrieben weiß auf schwarz“. Patmos: Begegnungen mit der Bibel im Kontext von Kultur – Liturgie  – Spiritualität, in: Pietas Liturgica 16, Tübingen 2015.

* Texte aus der Heiligen Schrift sind entnommen aus der Einheitsübersetzung © 1980, Katholische Bibelanstalt GmbH.

Liste der Wort-Gottes-Feiern “Patmos”

Informationen zur Gottesdienst-Reihe “Patmos”