Ministerpräsidentin a. D. Christine Lieberknecht

Foto: pixabay.com

Warteraum Deutschland

Bis Weihnachten soll die neue Bundesregierung gebildet sein. Das verkündete der Wahlsieger vom 26. September und derzeit aussichtsreichste Anwärter auf das Kanzleramt Olaf Scholz. Ob sich nun am Ende tatsächlich eine Ampelkoalition oder doch ein Jamaikabündnis durchsetzen wird, werden die kommenden Verhandlungen allerdings erst noch zeigen müssen. Auf jeden Fall aber scheinen sich die Ansprüche, unter denen das geschehen soll, vorgegeben von Grünen und FDP, für beide Bündnisse sehr zu gleichen. Schließlich werden beide Parteien, zwar als die jeweils kleineren Partner, zusammen aber doch jeweils stärker als Sozialdemokraten und als Union, der kommenden Regierung auf jeden Fall angehören. Eine Wiederholung der „Groko“ nur unter anderem Vorzeichen als bisher, wird von allen Beteiligten derzeit ausgeschlossen. Die Stichworte für die Verhandlungen lauten „Kein weiter so“, „Koalition des Aufbruchs und der Zukunftschancen“, „Neuanfang“, „Projekt Zitrus (grün-gelb) – Hoffnung für junge Menschen“. Themen wie CO²-Neutralität, soziale und ökologische Gerechtigkeit, Chancen der Digitalisierung, Deutschlands Rolle in Europa und im globalen Wettbewerb sind nur einige der inhaltlichen Themen, um die es geht.

Und wir, die Wählerinnen und Wähler? Schauen wir zu, was uns da allabendlich in Umsetzung unseres Wählervotums an aktueller Wasserstandsmeldung verkündet wird? Lehnen wir uns zurück in unsere Fernsehsessel und hoffen, dass die, die da gerade miteinander sprechen, schon irgendwie klarkommen werden? Die Gewählten verhandeln und wir Wählerinnen und Wähler schauen zu? Unsere Wohnzimmersofas und Couchgarnituren vereint zum großen „Warteraum der Nation“? Das grün-gelbe Selfie war ja schon mal ein guter Anfang.

Ich finde, damit machen wir es uns zu einfach. Wenn es von allen Seiten heißt, „Kein weiter so“, dann kann das nicht nur für eine zukünftige Regierung gelten. Ein wirklicher Neuanfang, eine „Koalition des Aufbruchs und der Zukunftschancen“ wird es nur gemeinsam mit den Menschen im Land geben, nicht ohne sie. Wie wäre es denn, wenn wir alle miteinander nicht nur auf die neue Bundesregierung warteten, sondern derweil selbst schauen, wie es mit Aufbruch und Neuanfang in unseren eigenen Gemeinschaften und Gremien steht? Mitmachen, tatkräftiger Einsatz von uns allen für einen neuen Aufbruch und aktives Handeln für unsere Demokratie – vielleicht wäre das auch die beste Therapie gegen die noch immer blauen Flecken, besonders in Ost- und Mitteldeutschland.

Christine Lieberknecht
Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen a. D.