Verunsicherung
Was ist noch sicher? Dass der Friede nicht sicher ist, erleben wir derzeit in Europa. 70 Jahre konnten wir von einer Zeit des Friedens in Europa sprechen. Das ist nun zu Ende. Wird es den Frieden bald wieder geben? Wir sind auch unsicher, wie er wieder hergestellt werden kann. In diesem Zusammenhang besteht auch neuerdings Unsicherheit über die Stabilität der Wirtschaft, des politischen Systems und des Klimas. Dazu kommt nun auch die Unsicherheit, wie es mit der Kirche in Deutschland und in der Welt weiter geht. Kann Verunsicherung auch ein Weg zum Heil sein?
Im Advent begegnet uns Johannes der Täufer. Er verunsichert die Pharisäer und Sadduzäer, die sich darauf berufen wollen, dass sie doch Kinder Abrahams sind und deshalb dem Gericht Gottes entgehen werden, da er doch dieses Volk auserwählt hat. Wer zu ihm gehört, wird gerettet – so ihre Meinung. Wenn Gott auch aus Steinen Kinder Abrahams schaffen kann, dann ist die Abstammung vom Volk Israel nicht ein Garant für das Heil. Gott kann auch andere Wege gehen. Wichtig ist, dass Zeichen der Umkehr gesetzt werden und gute Früchte erkennbar sind. Dazu braucht es keine Abstammung aus dem Volk Israel. Und alle, die meinten, dass Johannes der Täufer der Messias sei, werden durch ihn enttäuscht. Er ist nur die Stimme des Rufers in der Wüste, der auf das Kommen des Messias hinweist und der ihn sogar selbst sehen und taufen darf. Er verunsichert damit auch alle, die in Johannes den Erlöser sahen.
Um dazu ermutigt zu werden, der ursprünglichen Konzeption der Welt als Paradies eine Chance zu geben, braucht es Menschen, die uns dafür ein Beispiel geben. In den letzten Wochen habe ich mehrfach Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Caritas gehabt, die ich zur Betrachtung eins Kunstwerkes eingeladen hatte, das anlässlich der Neugestaltung eines Leitbilds der Caritas geschaffen wurde. Die Skulptur zeigt zwei Menschen, die in einem Rad stehen und sich gegenseitig anschauen und an der Schulter und an der Hand berühren. Sie halten auch an einem Kreuz fest, das manche als Haltepunkt und andere als Steuerknüppel bedeutet haben. Kinder aus dem Kinder- und Jugendheim hier in Erfurt haben auch den blutigen Rücken der beiden Personen erkannt und damit deutlich gemacht, dass wohl nur derjenige für den anderen hilfreich sein kann, der selbst die Not am eigenen Leib gespürt hat.
Manche von uns haben konkrete noch lebende Menschen vor Augen, die vorbildlich aus dem Glauben leben und dadurch Versöhnung und Frieden gebracht haben. Wir wissen aber auch, dass sie verunsichert haben wie Johannes der Täufer, denn meistens haben sie den Finger auf die Wunden gelegt, die wir gern vertuscht hätten. Wie kann ich Konflikte bewerten, die wir derzeit in Kirche und Welt erleben? Sind sie auch Erfahrungen, die uns zum Nachdenken anregen oder regen wir uns nur darüber auf? Prophetische Menschen wie Johannes der Täufer, wie Franz von Assisi oder Mahatma Gandhi verunsichern im bisherigen Denken und Verhalten, aber sie weisen auch auf eine notwendige Veränderung hin, die durchaus möglich ist, wenn Menschen mit einer inneren Stabilität leben, die zu einer inneren Sicherheit trotz äußerer Unsicherheit befähigt.
Die Überwindung von Hemmnissen aufgrund festgefahrener Strukturen ermöglicht einen Neubeginn der Menschen. Ob Gott verunsichert war, als er seinen Sohn in diese Welt geschickt hat, wissen wir nicht. Ich denke aber schon, dass er um den künftigen Kreuzweg seines Sohnes wusste. Diese Verunsicherung wurde aber durch die Liebe Gottes überstrahlt. So soll es auch bei uns sein. Advent hat für mich mit Dankbarkeit gegenüber der Liebe Gottes zu tun.
Weihbischof Dr. Reinhard Hauke, Erfurt