Versuchung zur Größe – Bereitschaft zur Demut

Mit diesem gottesdienstlichen Konzept wird der Durchgang durch das Alte Testament weitergeführt. Das große Thema von Versuchung und Sündenfall wird in der Lesung aus dem Buch Genesis vorgegeben, neutestamentliche Texte, Bild, Lied und geistliche Lesung entfalten diese Thematik.
Die Erfahrung, dass der Mensch nicht das Gute tut, obwohl er es als das Bessere erkennt, spiegelt eine innere Zerrissenheit, die sich gegen Gott und gegen den Menschen selbst richtet. Dagegen setzt die Vaterunserbitte, ebenso wie der Psalmdichter, die Überzeugung, dass der Mensch mit Gottes Beistand zum Guten fähig ist.


Ihr werdet sein wie Gott.

(Genesis 3,5)

Bild: Michelangelo Buonarotti
Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies
Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle, Rom  1508–12

zum Bild: Michelangelo – Sündenfall

Michelangelo – Sündenfall


Alttestamentliche Lesung:*

Genesis 2,15-17.25 – 3,7

Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte. Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.
Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander. Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?
Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.
Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben.
Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.


Neutestamentliche Lesung:

Römerbrief 7,7.11.15.19-25

Heißt das nun, dass das Gesetz Sünde ist? Keineswegs! Jedoch habe ich die Sünde nur durch das Gesetz erkannt. Ich hätte ja von der Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren.
Denn nachdem die Sünde durch das Gebot den Anstoß erhalten hatte, täuschte und tötete sie mich durch das Gebot.
Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse.
Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde.
Ich stoße also auf das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das Gute tun will. Denn in meinem Innern freue ich mich am Gesetz Gottes, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit dem Gesetz meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, von dem meine Glieder beherrscht werden. Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn! Es ergibt sich also, dass ich mit meiner Vernunft dem Gesetz Gottes diene, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.

Ruf vor dem Evangelium

Lk 10,19

Ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden.

Evangelium: Lukas 11,1-4

Jesus betete einmal an einem Ort; und als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat. Da sagte er zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht:
Vater, dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen.
Und erlass uns unsere Sünden;
denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und führe uns nicht in Versuchung.


Lied: Bleib bei mir, Herr!

Das englische Lied „Abide with me“ von Henry Francis Lyte (1847) stand Pate für das Lied „Bleib bei mir, Herr“, das im Evangelischen Gesangbuch in der Übersetzung von Theodor Werner (EG 488) steht. Als „Help of the helpless“ – Hilfe der Hilflosen – wird der Herr hier angerufen. Nicht als furchteinflößender König der Könige, sondern als geduldiger, menschenfreundlicher und mitleidender „Friend of sinners“ – Freund der Sünder – möge er kommen und dem Beter zur Seite stehen. In jeder Stunde seines Lebens braucht der Mensch diesen Beistand, der für alle Wunden Heilung bringt und ein Herz für jedes Flehen hat. Die wunderschönen Bilder, die der schottische Anglikaner für Gottes Güte fand – „with healing in Thy wings“ – mit Heilung in Deinen Flügeln – klingen in der deutschen Fassung schlichter.
Die dritte Strophe des Liedes macht deutlich, dass der Mensch ohne Gottes Beistand dem Bösen nicht widerstehen kann:
„Ich brauch zu jeder Stund dein Nahesein,
denn des Versuchers Macht brichst du allein.
Wer hilft mir sonst, wenn ich den Halt verlier?
In Licht und Dunkelheit, Herr, bleib bei mir!“

Zitat: Evangelisches Gesangbuch Nr. 488

 

Geistlicher Text: Größe im Kleinsein – Ladislaus Boros (1927-1981)

Die Erzählung vom Sündenfall im Buch Genesis spricht davon, dass der Mensch Gott als Konkurrenten seiner Freiheit und seiner eigenen Größe ansieht. Er möchte sein wie Gott, nicht Gott vertrauen. In diesem Sinn sieht Ladislaus Boros es als unabdingbar für echte menschliche Größe an, den eigenen Hochmut zu überwinden:
„Die Größe sucht sich in jenen Menschen Wohnung, die wissen, dass sie nichts sind, die eines Tages ihrer selbst, ihrer eigenen Herrlichkeit überdrüssig werden.“
Sein Nachdenken über wahre Größe und wahre Demut mündet in die Botschaft des Magnificat:
„Diese >Unbeweisbarkeit< der letzten Grundlagen menschlicher Wesentlichkeit bildet die mächtigste Versuchung unseres Seins. Nur eine bis ans Ende des Lebens bestandene Versuchung bringt die Erfahrung und damit die Einsicht: Wer sich groß macht, wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt, wird erhoben. Es ist fast unmöglich, diese feinsten Bezüge der Welt des Herzens mit treffenden Worten auszudrücken. Das Lied Mariens, dieses Hohelied menschlicher Eigentlichkeit, verstand es …“.
Der aus Ungarn stammende Theologe und Schriftsteller, der sich intensiv mit Gottesnähe und Gottesferne, mit Sterben und Erlösung auseinandergesetzt hat, argumentiert: „Daß Opfer und Freude eine Einheit bilden, daß man verzichten muß, um wirklich groß zu werden, das ist eine Wahrheit, die man erfährt, aber nicht beweisen kann.“

Zitate aus: Ladislaus Boros, Der anwesende Gott, Olten 1964

Zusammenstellung: Hans-Jakob Becker / Anne-Madeleine Plum Dieser Gottesdienst:  3 Pen C in Patmos Vgl. dazu ausführlich: Hansjakob Becker, „Dies große Wort, geschrieben weiß auf schwarz“. Patmos: Begegnungen mit der Bibel im Kontext von Kultur- , in: Pietas Liturgica 16, Tübingen 2015.

* Texte aus der Heiligen Schrift sind entnommen aus der Einheitsübersetzung © 1980, Katholische Bibelanstalt GmbH.

Liste der Wort-Gottes-Feiern “Patmos”

Informationen zur Gottesdienst-Reihe “Patmos”