Dr. Christian Hennecke

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Die pfingstliche Kraft des Endes und der neuen Anfänge

Wir fühlen uns wehrlos. Natürlich betrifft uns der Krieg in der Ukraine nicht direkt. Wir leiden nicht und wir sterben nicht. Wir sehen nur zu. Jeden Tag. Und wir erleben nicht nur einen Krieg, den wir nicht für möglich gehalten hätten, wir erleben auch das Zerbrechen der Illusion, unserer Illusion einer friedlichen und globalisierten Welt. Die Zukunft wird anders, wir spüren es. Und keine Krise lässt sich einfach lösen: nicht die lebensbedrohliche ökologische Krise, auch nicht die weltpolitische Spannungslage, nicht die Kriege. Es geht um neue Machtkonstellationen, um neue Feindschaften, Auseinanderbrechen von sicher geglaubten Beziehungen, es geht um Neobarbarei, kühle Machtspiele um ökonomische Vorteile – und wir selbst nicht unschuldig daneben, wir sind mittendrin – und stecken fest.

 

Und all das spiegelt sich auch in unseren Kirchen: Machtspiele, Polemik, tiefe Krise, Auseinanderbrechen kirchlicher Kulturen – das Ende einer organisationalen Rahmung und einer selbstverständlichen geglaubten Einheit zeichnet sich ab. Die Vielstimmigkeit wird immer herausfordernder. Und dabei wird natürlich deutlich, dass eine geprägte Kirchengestalt und ihre institutionelle Organisationslogik kaum Zukunft haben wird – und im Gegenteil schon länger Vergangenheit ist.

Natürlich: wir können uns in Gesellschaft und Kirche an den bekannten Paradigmen abarbeiten. Und das tun wir leidenschaftlich: fast jede Talkshow im Fernsehen und fast jedes Podium auf den Katholikentagen und synodalen Wegrunden bezeugt dies. Am Ende steht die Suche nach einer neuen Identität – die alte ist uns abhandengekommen.

Was werden wir finden? Wie werden wir einen neuen Weg entdecken? Wie eine neue Identität als Christen? Zurück zum Ursprung! Das ist leicht gesagt – aber es fordert eine Radikalität und Freiheit, die sich löst von den Schützengräben der Diskussionen und Kämpfe, die viel zu routiniert unseren Alltag bestimmen können. Allerdings: machbar ist das nicht. Auch die notwendende Aufarbeitung von Machtmissbräuchen jedweder Art, jede Neustrukturierung im Dienst an der Botschaft des Reiches Gottes, jede notwendige Neujustierung kirchlicher Machtverhältnisse ist nichts als Raumbereitung und Ermöglichung für neue Anfänge, die wiederum nicht in der Hand unseres Wollens liegen. Diese Raumbereitung ist notwendig, aber sie führt aus sich selbst noch nicht zum Ursprung zurück und in neue Anfänge.

Die Dynamik der Rückkehr zum Ursprung ist pfingstlich. Und sie ist eine permanente Dynamik in der Geschichte der Kirche und der Welt. Wer ernsthaft die (Kirchen-) Geschichte studiert, wird die charismatische Erneuerungsdynamik nicht übersehen können. Unerwartet und doch notwendig entstanden neue Wege, prophetische Geburten von Ideen, Gemeinschaften und Wegen, die wirklich pfingstliche Resonanz und kreative Aufnahme der Zeichen der Zeit sind. Es ist mehr als spannend, unsere Geschichte aus dieser Dynamik zu lesen. Denn im Werden und Vergehen charismatischer Aufbrüche spiegelt sich eine radikale Erneuerungsdynamik wieder, die aber immer auch mitdenkt, dass alles, was gewachsen sind, auch langsam oder schnell sterben wird, um Platz zu machen.

Haben wir genügend Mut, das Sterben gewohnter Sicherheiten und Identitäten so zu lesen – in Kirche und Welt? Trauen wir dem Pfingstgeist zu, Neues auf dem Weg zu bringen – und trauen wir dem Pfingstgeist zugleich auch das radikale Niederreißen zu – ein Zugleich, das wir nicht zustande bringen? Und sind wir bereit, uns auf beides sehenden Auges einzulassen? Auf den Schmerz, den Zorn und die Trauer des Untergangs? Auf das Hinschauen auf kleine und schwache Anfänge? Und auf die Hoffnung, darauf zu vertrauen, dass gilt: „Sende aus deinen Geist und alles wird neu geschaffen und du wirst das Angesicht der Erde erneuern“?

 

Dr. Christian Hennecke
Hildesheim