Dr. Christian Hennecke

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Zeitenwende

Der Krieg war nahe. Alle spürten es. Dietrich Bonhoeffer hatte es schon lange klar: Wenn die Nazis regieren, dann bedeutete das Krieg. Und nach der Eingliederung Österreichs und der Appeasementpolitik der Alliierten wurde immer deutlicher: Dieser Krieg wird ausbrechen und er wird schrecklich. Wie sich dazu stellen? Bonhoeffer bekommt das Angebot von Freunden, die er aus Studienzeiten kennt – und es gelingt ihm, am 2. Juni aus Berlin abzureisen. Mit dem Schiff überquert er den Ozean und wird freundlich und herzlich von seinen Freunden in den USA empfangen. Es wird möglich sein, dass er hierbleiben kann, eine Dozentur übernimmt und so dem drohenden Krieg entkommt. Und ihm wird die Aufgabe angetragen, sich um die immer zahlreicher werdenden Emigranten zu sorgen.

Die Freiheit ist so nah. Aber so einfach ist es für Bonhoeffer nicht. Er führt in diesen Tagen Tagebuch und wir werden Zeugen eines inneren Ringens über die Frage, ob er tatsächlich bleiben soll. Er bekommt Zweifel am eigenen Weg: „Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland. Ich kann nicht allein draußen sein, das ist mir ganz klar“, schreibt er in sein Tagebuch. Und dann liest er intensiv die Tageslosungen. Und an einem dieser Tage ist es Jesaja: „Wer glaubt, der flieht nicht“ (Jesaja 28,16). Und da wird es ihm klar, wie er in einem Brief an seinen Freund, dem berühmten Theologen Reinhold Niebuhr, schreibt: „Ich bin jetzt überzeugt, dass mein Kommen nach Amerika ein Fehler war. Diese schwierige Epoche unserer nationalen Geschichte miss ich beiden Christenmenschen Deutschland durchleben. Ich habe kein Recht, an der Wiederherstellung des christlichen Lebens in Deutschland nach dem Kriege mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile“.

Bonhoeffer bricht am 8. Juli zurück nach Deutschland auf.  Er wird bewusst – und das war für einen Christen nicht selbstverständlich zu begründen – am Widerstand gegen Hitler mitwirken. Er wusste, dass dieser Krieg alles zerstören wird, noch bevor er ausgebrochen war – und er verstand seinen Weg als österlichen Weg des Mitgehens durch den Tod in einen neuen Anfang.

Was für eine Entscheidung – was für eine österliche Tiefe, die hier durchrungen, durchlitten und dann entschlossen gelebt wird. Man kann kein Christ sein, wenn man nicht seinen Kreuzweg mitgeht, sich in seinen Leidensweg hineinziehen lässt: Aber das ist für Bonhoeffer keine spirituelle Übung abseits der Geschichte. Als am 20. Juli – Bonhoeffer sitzt schon im Gefängnis – der Putsch gegen Hitler scheitert, schreibt er in einem Brief an Eberhard Bethge:

„Ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt … dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das Glaube, das ist metanoia (Umkehr), und so wird man ein Mensch, ein Christ … Ich bin dankbar, dass ich das habe erkennen dürfen und ich weiß, dass ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin.“

Olaf Scholz spricht von einer Zeitenwende. Und das ist so. Die scheinbare Schwebe der Systeme und der scheinbare Frieden zerbrechen. Und wir sind mittendrin, mit unserer Schuld und Teilhabe, unserer Halbherzigkeit und unseren vielen Fragen. Wir erleben einen fürchterlichen Krieg in der Ukraine und feiern Ostern. Und es ist wahr: wir erleben diese Wende mitten in der Zeit, wo wir die große Wende unseres Glaubens feiern: Ostern.  Und dabei geht es eben nicht nur um die Auferstehung, um das unglaubliche Licht, sondern den Weg der Passion, durch die Nacht, durch den Tod.

Haben wir heute den Mut als Christinnen und Christen, die Kriege, die Ungerechtigkeiten, die Ambivalenzen, die Schuld mit in unser Leben zu nehmen, durch die Nacht und die Tode zu wandern mit den Menschen unserer Zeit? Teilzunehmen an dieser Wirklichkeit des Pascha mitten in unserer Zeitenwende?

Wir können nicht draußen bleiben, weil wir dann auch nicht mitwirken können an den neuen Kulturen, die immer wieder entstehen wollen. Eine Kultur der Auferstehung setzt voraus, dass wir uns mit hineinreißen lassen in den Weg des Dunkels, und unseren Teil tun.

 

Dr. Christian Hennecke
Hildesheim