Was gerade in der Ukraine geschieht, führt uns vor Augen, wie es um die sogenannte Wahrheit in unserer Lebenswelt bestellt ist. Im Westen reden wir von einem Aggressionskrieg in der Ukraine, von einem Überfall auf einen souveränen Staat. Wir sehen täglich, wie Zivilisten in ihren Häusern ermordet werden und lebensnotwendige Infrastruktur zerstört wird.
Diese Realität wird von den russischen Machthabern ganz anders gesehen, benannt und interpretiert. Wer diesen Krieg beim Namen nennt, statt von einer Sonderoperation Ukraine zu sprechen, muss ins Gefängnis. Unabhängige Medien werden ausgeschaltet, sodass nur die Version Putins im Land zu hören ist. Über die Hälfte der russischen Bevölkerung nimmt darum diese Interpretation der Wirklichkeit an und unterstützt den Krieg.
Analysen, warum das so ist, kennen wir. Man spricht auf der einen Seite von totalitären und autokratischen Systemen, die die Wahrheit mithilfe eines Machtapparates zu ihren Gunsten zurechtbiegen. In demokratischen Systemen auf der anderen Seite regulieren Gewaltenteilung, freie Berichterstattung und Rechtsstaatlichkeit den Umgang mit der Wahrheit.
Was können wir, die Kleinen im Lande, tun?
Vielleicht kann ein Blick in das eigene Leben mit seinem kleinen Radius nachdenklich machen. Gibt es in einem Nachbarschafts- oder Familienstreit nicht auch jene unterschiedlichen Blickwinkel auf die Wirklichkeit? Behaupten die Gesprächspartner oder -gegner nicht auch, einen Sachverhalt realistisch einzuschätzen und bestehen dennoch auf dem Gegenteil.
Im Blick auf die große Weltpolitik bleibt uns meist nur, auf fähige und friedliebende Politiker zu hoffen. Doch in der kleinen Politik über den Zaun haben wir die Möglichkeit, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen, wenn wir uns in die Schuhe des anderen zu stellen versuchen. Dann begreifen wir vielleicht ein wenig besser, warum er so denkt und handelt.