Bischof Dr. Peter Kohlgraf

Blick aus dem FensterFoto: Denice Husted – pixabay.com

Heimat finden

In den letzten Jahren ist verstärkt über das Schicksal der vielen Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben und berichtet worden. Betroffene haben Bücher geschrieben, in denen sie von ihrer Familiengeschichte erzählen, und es zeigt sich, dass auch Jahrzehnte nach den Ereignissen Menschen unter dem Verlust der Heimat leiden.

Verlust der Heimat: Damit ist nicht nur das Haus, der Grund und Boden gemeint, den diese Menschen oft über Nacht zurücklassen mussten. Man kann heute nachlesen, was es bedeutete, auf der Flucht bei Menschen wohnen zu müssen, denen man aus guten Gründen nicht willkommen war. Am Ende kam man in Orte, in denen es manchmal Jahre brauchte, bis man akzeptiert war.

Verlust der Heimat bedeutete so: nicht mehr anerkannt zu sein, viele Freundschaften, Beziehungen und auch die soziale Stellung verloren zu haben, nichts mehr zu gelten. Heimat ist mehr als ein Ort. Heimat sind feste Beziehungen, Heimat bedeutet, anderen wichtig zu sein, zu wissen, dass man dort hingehört, dass dort Menschen sind, die einen wertschätzen.

Daran muss ich in diesen Tagen denken, in denen wieder Menschen zu uns kommen, die durch Krieg und andere Katastrophen heimatlos geworden sind. Es gehört zu den Werken der Barmherzigkeit, diesen Menschen Heimat anzubieten. Das gilt für Menschen aus der Ukraine, aber nach den Maßgaben des Rechts auch für Menschen aus anderen Krisengebieten. Der Blick auf die Vertriebenen und Geflüchteten nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, dass es um mehr als um Wohnraum gehen muss.

Auch das Volk Israel hat die Sorge um den Fremden immer mit der eigenen Erfahrung der Heimatlosigkeit und Flucht begründet. Es wird eine herausfordernde Aufgabe sein, sich anderen Kulturen, Lebensweisen, Menschen mit anderen Erfahrungen und anderen Sprachen zuzuwenden. Verstehen und Beziehungen müssen wachsen. Es wird eine wichtige Aufgabe der Kirche bleiben, Heimat zu gestalten und an Lebensperspektiven mitzuarbeiten. Immer wieder ist zu spüren, dass manchem Hilfewilligen auch die Kraft und die Motivation schwinden, und es wird auch Enttäuschungen und andere negative Erfahrungen geben. Barmherzigkeit ist ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem viele eingeladen sind, mitzumachen.

Bischof Dr. Peter Kohlgraf, Mainz

Kommentar aus: basis-online.net