Meine liebe Freundin Anne,
Zweiter Brief an Anne Frank
Kirchen-Geschichten
Foto: wikimedia commons
heute vor 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Bergen-Belsen von den Briten befreit. Wenige Wochen, nachdem Margot und du an den Folgen einer Typhus-Epidemie verstorben seid. Ich war da, an diesem schrecklichen Ort. Als ich an deinem Gedenkstein verweilte, spürte ich, wie nah und weit wir voneinander getrennt sind. Deine Freundin Hannah Elisabeth Pick-Goslar – oder Lies Goosen, wie du sie in deinen Briefen nanntest – berichtete über euer letztes Treffen am Zaun, wie sie dir ein Päckchen mit Lebensmitteln und Kleidung zugeworfen hatte. Weißt du noch, was du am 27.November 1943 an Kitty geschrieben hast?
Liebe Kitty! Gestern vor dem Einschlafen stand mir plötzlich Hanneli vor den Augen. Ich sah sie vor mir, in Lumpen gekleidet, mit einem eingefallenen Gesicht. Ihre Augen waren sehr groß, und sie sah mich so traurig und vorwurfsvoll an, dass ich ihren Augen lesen konnte: „Oh Anne, warum hast du mich verlassen? Hilf, o hilf mir, rette mich aus dieser Hölle!
Wie schrecklich das alles gewesen sein muss, auch die Trennung von deinen Eltern, der Tod deiner Schwester und auch dein eigener. War alles nur noch weglos? Hoffnungslos? Oder hast du bis zur letzten Minute gehofft, alles wird wieder gut werden?!
In meinem letzten Brief schrieb ich dir über diesen Virus, der die Welt in den Stillstand zwingt. Sie nennen ihn Covid-19, er verbreitet weiter Angst, Krankheit und Tod. Und er rückt immer näher. Auch in meiner Familie oder von Freunden gibt es Erkrankungen, dessen Ausgang wir nicht wissen und einschätzen können. Nur beten, dass es vorüber geht. Es ist nicht leicht, jeden Morgen in einen ungeplanten Tag zu starten. Fünf Wochen schon leben wir mit vielen Einschränkungen, am schlimmsten fehlen die sozialen Kontakte. Einkaufen, Bibliotheken, Museen, Friseur wäre schon Luxus, aber einfach wieder normal Freunde treffen, sich umarmen, zusammen sein, das wäre schön.
Aber sobald man Mitmenschen auf der Straße begegnet, macht man einen Bogen, um den Abstand zu wahren, sich nicht anzustecken. Das fühlt sich unsozial, kühl an. Jeder fragt sich, wie lange wir diesen Zustand aushalten können oder müssen. Jeder wünscht sich am Morgen aufzuwachen, und alles wäre so wie vorher.
Aber es wird nichts wie vorher sein. Nur wie wird es werden? Im Moment fühlt sich dieser Stillstand weglos an, wie ein Abwarten der Zeit, die trotzdem weiter tickt. Ist es eine verlorene oder eben einfach unsere Zeit? Wenn mir der Lebensfrohmut schwindet, laufe ich in den Wald. Es ist zum Glück noch erlaubt. Draußen geht die Zeit weiter und so schön, blühen die Blumen, platzen die Knospen an den Bäumen auf und die Vögel zwitschern. Im Wald kann man atmen, beten und Lebenskraft tanken.
Am 7. März 1944 schreibst du an Kitty:
Mein Rat ist: Geh hinaus in die Felder, die Natur und die Sonne. Geh hinaus und versuche, das Glück in Dir selbst zurückzufinden. Denke an all das Schöne, das noch in Dir und um Dich ist und sei glücklich… Ich hingegen finde, dass noch in jedem Kummer etwas Schönes übrigbleibt. Wenn man das betrachtet, entdeckt man immer mehr Freude, und man wird wieder ausgeglichen. Und wer glücklich ist, wird auch andere glücklich machen. Wer Mut und Vertrauen hat, wird im Unglück nicht untergehen!
Man kann die Zeiten nicht vergleichen, oder gleichsetzen, aber man kann aus ihnen lernen. Meine liebe Anne, wie sehr danke ich dir für deine tröstenden und mutmachenden Worte.
Im Herzen tief verbunden,
grüßt dich, deine Freundin Nic
grüßt dich, deine Freundin Nic
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