Texte und Gebete
Der Wunsch, Gott zu sehen
Welcher gläubige Mensch kennt nicht die Sehnsucht, wenigstens einmal Gott so zu begegnen, dass alle Zweifel vorüber wären. Mose ist eine der biblischen Gestalten, die Gott anschauen möchten. Mose hatte auf dem Berg Sinai mit Gott gesprochen, während das Volk in seinem Unglauben das goldene Kalb gebaut und angebetet hatte. Nun begegnet Mose Gott wieder und bittet:
„Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Der Herr gab zur Antwort: Ich will meine ganze Schönheit vor dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen. Ich gewähre Gnade, wem ich will, und schenke Erbarmen, wem ich will… Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben. Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen.“ (Ex 33,18-23)
Nur den „Rücken“, eine Spur vom Vorübergehen Gottes, kann Mose erhaschen. Gerade weil er so vertrauten Umgang mit Gott hatte, wird jetzt um so deutlicher: Selbst dieser wichtige Mose kann das Wesen Gottes nicht erfassen. Noch weniger, als der Mensch den Glanz der Sonne ertragen kann, ohne geblendet zu werden, kann der Mensch Gott anschauen. Gott begleitet die Menschen, ist ihnen nahe. Er gewährt Gnade und Erbarmen. Dennoch lässt sich Gott nicht bestimmen. Der Abstand zwischen Gott und den Menschen bleibt unendlich. Wir können ihm nicht ins Angesicht schauen, wie Menschen sich gegenseitig ansehen, einander begegnen, einander erkennen.
Der „un-menschliche“ Gott
Diese Mose-Erzählung verdeutlicht: Wir können Gott nicht begreifen oder festhalten, weder mit den Augen, noch mit unserem Verstand. Über ihn können wir eher sagen, was er nicht ist, als das, was er ist. Er ist in diesem Sinn „un-menschlich“, ganz anders als wir ihn uns vorstellen können. Er allein besitzt Unsterblichkeit und wohnt in unzugänglichem Licht (1 Tim 6,16).
So bleibt den Menschen letztlich nur, diesen großen Gott in Ehrfurcht anzubeten, wie es am Ende des Vaterunsers geschieht: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“
Glaube in Spannung
In der Glaubensgeschichte der Menschen, so auch in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes, entsteht eine Spannung zwischen der Vorstellung vom nahen und begleitenden Gott und der Vorstellung von Gott als dem ganz Anderen, von dem wir eigentlich nicht wirklich etwas wissen, weil er alle unsere menschlichen Vorstellungen und Kategorien sprengt.
Beide Vorstellungen gehören im christlichen Glauben untrennbar, aber spannungsreich zusammen. Wer Gott nur als den Nahen begreift, steht in der Gefahr, sich Gott verfügbar zu machen. Wer Gott nur als den ganz Anderen versteht, läuft Gefahr, nur noch theoretisch an Gott zu glauben, weil dieser ferne, ganz andere Gott mit seinem Leben nichts zu tun hat.
In der Spurensuche werden beide Vorstellungen ernst genommen. Was wir Menschen von Gott erfahren, kann immer nur eine Spur, sein „Rücken“ sein. Doch geht der Glaubende davon aus, dass sich solche Spuren im Leben wirklich finden lassen.
Fragen:
- Habe ich selbst auch schon einmal den Wunsch gehabt, endlich Gewissheit darüber zu bekommen, ob dieser Gott existiert? Was würde mich davon überzeugen, dass es Gott tatsächlich gibt?
- Ist für mich persönlich Gott eher ein naher Gott, der mein Leben begleitet, oder ein Gott, der ganz anders ist als menschliche Vorstellungen?