Gott – der ganz Andere

Texte und Gebete

14. Die dunkle Seite Gottes

Der nahe und der ferne Gott

Die Bibel zeichnet nicht nur das Bild eines fürsorglichen und nahen Gottes. Da wird auch von einem Gott gesprochen, der unbegreiflich ist, der zulässt, dass die Seinen in Not und Elend versinken. Das Alte Tes-tament kennt Klagelieder und Klagepsalmen, die aussichtslose Situationen Einzelner oder des ganzen Volkes beschreiben.

Die Gefangenschaft im babylonischen Exil war für das Volk die tiefste gemeinsame Erfahrung von Leid: „An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten“ (Ps 137,1). Gott ist oft mit seiner Führung undurchschaubar, unbegreiflich. Dennoch halten die glaubenden Menschen vertrauensvoll an ihrem Gott fest. So heißt es z.B. im Buch Habakuk:

„Zwar blüht der Feigenbaum nicht,
an den Reben ist nichts zu ernten,
der Ölbaum bringt keinen Ertrag,
die Kornfelder tragen keine Frucht;
im Pferch sind keine Schafe,
im Stall steht kein Rind mehr.
Dennoch will ich jubeln über den Herrn
und mich freuen über Gott, meinen Retter.
Gott, der Herr, ist meine Kraft.“                             (Hab 3,17-19)

Erlebte Gottesferne

Diese Erfahrung der möglichen Gottesferne prägt auch das Schicksal Jesu im Neuen Testament. Der am Kreuz hängende Jesus zitiert die Worte des Psalms 22,2:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen,
bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“

Hier bricht selbst über den die Dunkelheit der Gottverlassenheit herein, der sich als Sohn in einmaliger Weise mit Gott verbunden weiß. Jesus spricht diese Worte in die „Finsternis“ hinein, die von der sechsten bis zur neunten Stunde im ganzen Land herrscht (Mt 27,45). Sie ist Spiegel dessen, was sich im Inneren Jesu abspielt: eine totale Finsternis, die das ganze Land umfasst und alles in seinen Bann schlägt. Der Kosmos hält sozusagen den Atem an (U. Luz). Und dennoch weiß der, der sich im Beten der Psalmen auskennt, dass der Psalm 22 einmündet in ein tiefes Vertrauen in Gott und in den Glauben an seine Hilfe. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46; vgl. Ps 31,6).

Dunkelheit des Glaubens

Die Erfahrung, dass Gott nicht nur der nahe, sondern auch der ferne Gott sein kann, gilt für alle, die sich in die Nachfolge Jesu begeben. Geistige Trockenheit, Leere und Dunkelheit im Blick auf Gott können im Inneren eines Menschen herrschen, selbst wenn er sich noch so sehr um den Glauben müht.

Gottes Spuren können verwischen, können unverständlich und unbegreiflich werden. Die Suche nach seinen Spuren kann für eine gewisse Zeit vergeblich, ungewiss sein. Wie in der Geschichte von den Spuren im Sand können Zweifel das Herz zerreißen, ob Gott gerade dann, wenn der Mensch ihn am nötigsten braucht, auch helfend zur Seite steht oder wenigstens anwesend ist. Glaube hat somit immer auch einen Dunkelheits- und Wagnischarakter (J. Kentenich).

Spuren

  • Wo spüre ich in meinem Leben Dunkelheit und Einsamkeit?
  • Wie ergeht es mir mit meinem Glauben und meinem Vertrauen auf Gott in dunklen Situationen meines Lebens?
  • Im Beten des Psalms 22 kann ich mir die Situation Jesu am Kreuz vorstellen, seine Einsamkeit und Dunkelheit, aber auch sein Vertrauen in Gott, seinen Vater.