Bild: Rita Krötz – generiert mit Chat GPT
Vor wenigen Tagen nahm ich mein Handy zur Hand, weil ich wieder einmal eine Antwort auf eine Frage suchte, die mir gerade in den Sinn kam. Vorher stieß ich auf eine Nachricht – und blieb erst einmal dort hängen, weil auch diese gelesen werden wollte. Auch diesmal enthielt die Message ein Anliegen an mich…
„Viel zu viel Zeit, die ich mit diesem Gerät verbringe“, schießt es mir durch den Kopf. Mir fällt auf, dass ich immer öfter zum Handy greife: weil mich eine Frage beschäftigt, weil ich neugierig bin und etwas unbedingt wissen möchte. Manchmal suche ich gezielt nach Informationen im Internet oder frage die KI-App um Rat, wenn ich eine Entscheidung treffen möchte.
Erschrocken stelle ich fest: Ich verbringe mehr Zeit am Handy, als mir lieb ist. „Ach Gott, jetzt ist es schon so weit mit mir“, lautet meine innere Selbstanklage. Gleichzeitig drängt sich eine alte Erinnerung auf, weil ich Parallelen erkenne.
In meiner Kindheit hatten wir zuhause hin und wieder Besuch von einem Ehepaar, das regelmäßig Wein von meinem Vater kaufte. Mit den Jahren entstand daraus eine freundschaftliche Beziehung. Die Frau war für mich als Kind eine besondere Erscheinung: klein und drahtig, gesprächig und lebendig. Ihr Mann dagegen war eher ein ruhiger Vertreter im Hintergrund – sie hatte eindeutig das Heft in der Hand.
Etwas an ihrem Verhalten beschäftigte und amüsierte uns in der Familie immer wieder: Für ihre alltäglichen Verrichtungen brauchte sie mehr Zeit als andere. Warum? Sie trug stets ein kleines Pendel aus Messing bei sich, um damit Entscheidungen zu treffen. Das Pendel hing an einer dünnen Schnur und konnte nur auf Ja-/Nein-Fragen antworten: Schwang es vor und zurück, war das ein Ja; bewegte es sich seitlich, ein Nein. Irgendwann wurde sie von unserer Familie deshalb nur noch „die Pendelfrau“ genannt.
So begann ihr Tag mit Fragen wie: Welche Kleidung soll ich anziehen? Wird es heute regnen? Welche der ausgesuchten Kleidungsstücke wird das Pendel wählen? Auch beim Essen verließ sie sich auf diese Methode: Welches Nahrungsmittel tut mir gut? Besonders absurd erschien meiner Mutter, dass die Frau das Pendel sogar in der Kirche einsetzte, um sich den „besten Platz“ auszusuchen – den mit der geringsten negativen Strahlung, wie sie sagte. Schnell und fast unbemerkt ließ sie es zwischen den Fingern schwingen, bevor sie es wieder in der Tasche verschwinden ließ. Selbst bei der Wahl des Bettes überließ sie nichts dem Zufall, sondern der „Weisheit“ des Pendels.
Für mich war das eine zeitraubende und seltsame Angelegenheit. Ich sehe noch vor mir, wie ich meiner Schwester augenrollend deutlich mache, wie suspekt mir das Ganze vorkommt. In mir wehrte sich etwas: Wie konnte sie ihre Freiheit an ein Pendel abgeben? War sie denn zu gar keinem Risiko bereit? Wie ließ sich das mit ihrem katholischen Glauben vereinbaren? War das nicht Aberglaube?
Jetzt sitze ich also da mit meinem Handy in der Hand – und merke plötzlich, wie ähnlich mein Verhalten dem der Pendelfrau ist. Auch ich suche Antworten außerhalb von mir, auch ich vertraue immer öfter auf ein Hilfsmittel, das mir scheinbare Sicherheit bietet. Sie schwang ihr Pendel, ich scrolle durchs Handy oder frage die KI. Beides kostet Zeit, beides vermittelt Orientierung – und beides birgt die Gefahr, die eigene innere Stimme zu überhören.
Damals lehnte ich ihre Abhängigkeit entschieden ab; heute ertappe ich mich bei etwas Ähnlichem. Welche Entscheidungen kann ich wirklich aus mir selbst heraus treffen, weil sie gereift sind — und welche schiebe ich hinaus, indem ich sie an ein Gerät abgebe? Was suche ich eigentlich, wenn ich so oft zum Handy greife: schnelle Antworten, Sicherheit und Optimierung, vielleicht die Befriedigung von Wissensdurst? Mir wird klar, dass ich damit Zeit für Wesentliches verliere – für mein kreatives Tun, für meine Bedürfnisse nach Ruhe und sozialen Kontakten.
Vielleicht ist es genau hier, wo mir die Erinnerung an die Pendelfrau heute etwas sagen will: Sie hält mir einen Spiegel vor, wie beeinflussbar ich bin — sowohl durch spontane Bauchgefühle, die nicht mit meiner Mitte zu verwechseln sind, als auch durch äußere Impulse. Damit gebe ich Verantwortung aus der Hand, gerade für die Umsetzung dessen, was mir wichtig ist.
Die eigentliche Aufgabe ist wohl, unterscheiden zu lernen zwischen der Suche nach hilfreicher Unterstützung und einer stillen Abhängigkeit. Mehr Vertrauen in meine eigene Entscheidungskraft und klare Grenzen im Umgang mit dem Handy werden mich hoffentlich wieder auf die Spur bringen, zu einer guten Balance.
vom 02. 2015 bis 12. 2022 hatten wir
987.651 Besucher, die
2.164.067 Seiten gelesen haben.