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Dritter Brief an Anne Frank
Meine liebe Freundin Anne,
vor ein paar Tagen habe ich deinen Romanentwurf über das Hinterhaus gelesen. Anne, dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Ein Verlag hat mit der Zuarbeit des „Anne-Frank-Haus“ deine Aufzeichnungen überarbeitet und es gedruckt, als Geschenk zu deinem 90. Geburtstag. Das ist doch großartig. Außerdem hat Laureen Nussbaum, deine alte Freundin, ein schönes Nachwort dazu geschrieben. Sie ist sehr froh und dankbar, dass dein Roman endlich Wirklichkeit geworden ist. Du hast ja auch hart dafür wie eine Verrückte daran geschrieben.
Am 5.4.1944 hast du an Kitty geschrieben:
„Ich muss arbeiten, um nicht dumm zu bleiben, um weiter zu kommen, um Journalistin zu werden, das will ich! Ich weiß, dass ich schreiben kann. … O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben, wie die meisten Menschen. … Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir bei meiner Geburt schon eine Möglichkeit mitgegeben hat, zu schreiben, also auszudrücken, was in mir ist. Mit Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer verschwindet, mein Mut lebt wieder auf. Aber, und das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin oder Schriftstellerin werden?“
Ich schreibe in letzte Zeit auch mehr als sonst, meist Briefe an liebe Menschen mit Füller und Herz. Mich befreit das Schreiben ebenfalls, es macht Luft. Nicht um sonst heißt es: „Den Frust von der Seele schreiben.“
Unsere Krisenzeit mit dem Virus Covid-19 lässt genug Frust wachsen. Nicht zu wissen, wie lang sich das alles hinzieht, wie lange wir in dieser Krisenzeit ausharren müssen, zehrt an den Nerven. Die Einschränkungen aushalten ist manchmal schwer, besonders den Abstand zu den Mitmenschen. Wie gerne würde ich manchen umarmen, ihm mal wieder richtig um den Hals fallen. Doch geht die Gesundheit vor.
Nun leben wir schon über 8 Wochen in diesem Zustand, der unseren Alltag ausgehebelt hat. Was es mit uns macht? Sobald die Strukturen fehlen, fällt auch die Motivation in den Keller. Alle Schüler lernen zuhause, jeden Tag wird es anstrengender, die Kinder ihren Zielen näher zu bringen. Die Grundstimmung sinkt genauso wie die Leistungen in den Keller. Trotz allem gibt es schlimmere Not, die durch die Situation entstanden ist. Finanzielle Nöte steigen, Kündigungen flattern ins Haus, Menschen können diese Einsamkeit nicht mehr aushalten, sie werden depressiv und Kranke sterben einsam, verlassen.
Meine Tochter musste nur zwei Tage ins Krankenhaus, nur zur Beobachtung, aber allein. Ich durfte mein Kind nicht begleiten. Eine eisige Erfahrung, die jeder Mutter das Herz bricht. Zum Glück sind wir als Familie wieder zusammen. Gott sei Dank!
Nun haben die zuständigen Politiker/innen einige Lockerungen beschlossen, wie zum Beispiel, die schrittweise Öffnung der Schulen und Kitas, Geschäfte und auch manche Restaurants. Aber alles fühlt sich fremd und seltsam an. So manch einer fühlt sich seiner Freiheit und seinen Rechten, die in einem demokratischen Staat herrschen, betrogen und gefangen. Es kursieren Verschwörungstheorien durch die Medien. Menschen gehen auf die Straße, um für Rechte zu kämpfen. Doch vergessen diese wohl, dass Covid-19 eine tödliche Waffe werden kann, der egal ist, wen sie trifft.
Mit zahllosen Debatten über unabänderliche Situationen kennst du dich ja ebenso aus. Am 27.03.1944 äußerst du:
„Optimisten und Pessimisten und nicht zu vergessen, vor allem die Realisten geben mit unermüdlicher Energie ihre Meinung zum Besten, und wie das immer so ist, glaubt jeder, er hätte recht.“
Und am 15.01.1944:
„Der Krieg stört sich nicht an unseren Streitigkeiten, Freiheits- und Frischluftneigungen, und deshalb müssen wir versuchen, das Beste aus unserem Aufenthalt zu machen. Ich predige nun, aber ich glaube auch, wenn ich hier noch lange bin, werde ich zu einer ausgetrockneten Bohnenstange. Dabei wäre ich so gern noch ein richtiger Backfisch!“
Mein lieber Backfisch Anne, wie sehr danke ich dir wieder für deine Zeilen, die mir Mut machen und mich trotz deiner traurigen Situation zum Schmunzeln bringen.
In freundschaftlicher Verbundenheit,
deine Nic
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