Date:08. Jun 2008

Zeitenstimme “sich vernetzen”. Lebenswelt und Netzwerk

Zeichen der Zeit

Frühlingstisch

 

Neulich bei einem meiner Gänge durch die Bahnhofsbuchhandlung in Koblenz sah ich einen Artikel “Gut vernetzt”. Sofort war mir klar, dass ich in diesem einer wichtigen Zeitenstimme begegne. Und dass ich dazu bei Sspurensuche” etwas schreiben würde.

Pluralistische Gesellschaft. Unsere westlichen Gesellschaften sind schlechthin definiert als pluralistische Gesellschaften, als Massen- und Konsumgesellschaften. Vieles lebt selbstverständlich nebeneinander. Das bringt Anonymität und Vereinsamung mit sich.

Lebenswelten. Doch sind die westlichen Gesellschaften nicht einfach nivellierte Massengesellschaften. Es gibt in ihnen Räume, Segmente, Lebenswelten, Lebensräume, Milieus. Darauf hat in der letzten Zeit die sehr beachtete Sinus-Studie hingewiesen. Es ist nicht nur die ausdrücklich “formierte Gesellschaft”, sondern eine Lebenswelten-und Milieus-Gesellschaft. Solche Lebenswelten oder Milieus stellen Integrationsräume dar. Werte- und Sinn-Räume. Sind sozusagen kollektive Identitätsinseln mit eigenem Sprachspiel und Zeichenkosmos. Die genannten Gebilde sind unterschiedlich “geschlossen” oder “eigengeprägt”.

So stellt die Schule, die Universität oder auch die Volkshochschule eine Lebenswelt dar. Wer sie besucht, tritt in einen Kosmos von Bezügen, Werten, Orten und Personen ein. Oder ich nenne die Lebenswelt von Fundamentalisten. Die Lebenswelt von Lourdes-, Fatima- bzw. Medjugorje- Anhängern. Die Lebenswelt der Schönstätter. Die Lebenswelt der Anhänger der Anthroposophie in ihren verschiedenen Ausprägungen in Schule, Krankenhaus, Landwirtschaft und intellektueller Sinnstiftung. Die Lebenswelt der verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen unter uns. Oder die Lebenswelt “Internationaler Freundeskreis der Thomaskirche zu Leipzig e.V. und Vergleichbares. Oder die Lebenswelt der Redaktion einer wichtigen Zeitung: “Dieses Blatt [Die Zeit] ist meine Heimat geworden” kann eines ihrer Mitglieder sagen (Marion von Dönhof). Dann wäre zu nennen die Lebenswelt von Nichtsesshaften. Oder die der ökologisch Interessierten. Ich bin mir bewusst, dass ich das Wort Lebenswelt sehr unpräzis verwende und in einem sehr viel konkreteren Sinn als es die Sinus-Studie tut.

Gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Lebenswelten. Wenn wir einzelne Menschen aus solchen Lebenswelten befragen oder mit ihnen Umgang haben, merken wir, dass sie eigentlich gleichzeitig verschiedenen Lebenswelten angehören. Das kann man z.B. erfahren, wenn man an einem ihrer Feste teilnimmt. Da treffen sich Vertreter und Vertreterinnen aus den unterschiedlichsten Milieus. Alle gehören irgendwie dann doch zusammen und nehmen an der originellen Synthese des Einladenden aus den Werten der verschiedenen Lebenswelten teil.

Netzwerk. Wir begegnen dem persönlichen Netzwerk einer Person. So wird der Begriff Lebenswelt ergänzt durch die Realität Netzwerk. Jede Lebenswelt ist natürlich auch in sich (in einem weiteren Sinn) eine Art Netzwerk. Und doch ist die Sache beim Netzwerk noch mehr in die Freiheit und Initiative des einzelnen gelegt, der eine bestimmte Beziehungspflege frei gewollt als Aufgabe sieht und übernimmt. So erzählt jemand, wenn er demnächst seinen Studienort wechselt, wäre zunächst seine wichtigste Aufgabe in der neuen Stadt, sich wieder einen Freundeskreis aufzubauen. Da viele so denken, ist dies auch gar nicht so schwierig. Aber man muss es wollen. So hat auch jeder Verein eine doppelte Zielsetzung, die vereinsspezifische und die der “Geselligkeit” bzw. der Bindungspflege. Für viele ist die Verwandtschaft ein wichtiges Netzwerk von Menschen die oft sehr verschiedenen Lebenswelten gleichzeitig angehören. Oder ich nenne das Netzwerk, das an Weihnachten/Neujahr aktualisiert wird, wenn Briefe, Mails, Telphonanrufe quer über den Globus gehen.

Kirche als Lebenswelt bzw. Netzwerk. Auch die Kirche ist für viele Christen eine spezifische Lebenswelt. Sie will aber mehr als Netzwerk begriffen werden. Die verschiedenen Verknüpfungen der unterschiedlichsten Lebenswelten in den einzelnen Christen werden durch diese in ihr gegenwärtig und vertreten. Ein wichtiges Stichwort für die neue Gestalt der Kirche ist somit “personale Verknüpfung”. So wird die Kirche, die Gemeinde, aus Menschen verschiedener gesellschaftlicher Segmente gestaltet. Und verwirklicht sich in unterschiedlicher Zugehörigkeit zu ihr.

In diesem Jahr, in dem wir den Kirchenbegründer Paulus auf Wunsch des Papstes besonders in den Blick nehmen, können wir uns neu bewusst werden, wie er vorgegangen ist. Seine Gemeinden entstanden prozesshaft in der Weise eines wachsenden Netzwerkes. Stütze für die neue Einwurzelung und Ersatz für das Aufgegebene der alten Verwurzelungen in der jüdischen bzw. heidnischen Tradition bot die menschlich-religiöse Wärme des neuen Netzwerkes. Nicht zuletzt die Gestalt des Paulus selbst. Ich denke, dass wir hier – auch für heute bedeutsam – das Urmodell von kirchlicher Arbeit vor uns haben. Diese soll vor allem Verknüpfungsarbeit sein. In immer neuen Situationen begegnen wir Menschen aus sehr unterschiedlichen Lebenswelten, mit denen wir das Christsein teilen. Immer geht es darum, Fühlung mit diesen zu haben und sie mit dem Netzwerk der Christus-Zugehörigen zu verknüpfen.

Das Vorgehen Pater Kentenichs. Als Netzwerkarbeiter ist Pater Kentenich Paulus besonders ähnlich geworden. Seelische Kleinarbeit nennt er es. Es geht ihm dabei nicht einmal so sehr um geistliche Begleitung, sondern eben um Netzwerkarbeit, um “Fühlungnahme” und “seelische Verknüpfung”. “Das Grundverhältnis in der Schönstatt-Familie (…) ist anfangs nur konstituiert, lebendig, wirksam geworden durch einen persönlichen Verkehr. Das ist immer ein Grundverhältnis von Person zu Person geworden, individuell; und in sich und in seiner Tiefe und inneren Gestaltung wohl auch ein Geheimnis geblieben” (1966). “So entstand fast über Nacht hüben und drüben eine wundersam öffnende und geöffnete seelische Nähe, die als vorzügliche Vorbedingung für gegenseitige Lebensübertragung angesprochen werden darf” (1960). Und er kann von sich sagen: “Ich habe ja in meinem Leben überhaupt nichts anderes getan als mit meinen Leuten zusammengelebt. Gar nichts” (1965). Es geschah, “damit diese feinsten inneren, seelischen Verbindungen geknüpft werden können” (1931).

Zurück zur Sinus-Studie. Sie beschreibt gut das Phänomen der Lebenswelten und die Gegenwart bzw. Abwesenheit kirchlich-christlicher Vorstellungen bzw. einer entsprechenden Praxis in diesen. Lässt die Rezeption der Studie aber nicht zu sehr außer acht, dass die verschiedenen Lebenswelten sich dann auch wieder überschneiden. Suggeriert sie damit aber nicht zu sehr, dass der flächendeckende pastorale Ansatz doch der eigentlich richtige ist? Denkt sie und ihre Interpreten Kirche nicht viel zu wenig – missionarisch – in den Kategorien eines sich ausweitenden Netzwerkes?

Herbert King