Date:05. Okt 2008

Zeitenstimme “neue Schule”

Zeichen der Zeit

Kind mit Computer

Foto: Jacek Chabraszewski – Fotolia.com

Umgehen mit Zeitenstimmen. Umgehen mit Zeitenstimmen bedeutet zum einen, auf Missstände hinzuweisen. Sich abgrenzen. Und sehen, wo und wie Abhilfe geschaffen werden kann. Dabei wird der Christ und der Humanist immer wieder auf die Bedeutung des ethischen und religiösen Verhaltens hinweisen.

Umgehen mit Zeitenstimmen bedeutet aber ebenfalls und noch bedeutend mehr: dem nachzugehen, was an Neuem entsteht und gelingt, auch wenn es noch Fehler hat, erst noch auf dem Weg ist und leicht „abgeschossen“ werden kann. Für religiöse Menschen, die in der Zeit lesen, ist dort der Geist Gottes am Werk, der zeitüberwindend in die Zukunft weist und führt (J. Kentenich).

Daraus kann immer wieder ersehen werden, dass Gott auch unsere Zeit nicht nur nicht verlassen hat, sondern ihr in vielen Initiativen sehr, sehr nahe ist. Und dass man optimistisch sein kann. Unser Projekt „Spurensuche“ hat es mit der Zeit Gottes zu tun. Die Aufgabe: Seinen Vorübergang und seine Anwesenheit beobachten und sich an diesen Stellen – je nach Berufung – in seinen Dienst stellen. (vergl.: Herbert King, Neues Bewusstsein, Patris-Verlag, Vallendar 1995).

Problemfall Schule. Eine Stelle, an der wir seit längerer Zeit den Geist Gottes besonders beobachten können, ist das Gebiet der „neuen Schule“.

Die Schule, ihre Lehrer, Schüler und Eltern derselben sind mächtig ins Gerede gekommen. Versagen des Elternhauses (Die bringen ja nichts mit, können das Vaterunser nicht…), Verhaltensgestörtheit der Kinder, Migrationhintergrund und fehlende Integration, heutige Zeit mit ihrer Verworrenheit, „Faulheit“ und „Unfähigkeit“ der Lehrer. Frühes Ausgebranntsein derselben. Das ist der eine Blick in die Zeit. Ein richtiger Blick.

Und die Forderungen: Mehr Geldmittel für die Schulen sind nötig, mehr Disziplin. Mehr Lehrer.

Zeitenstimme „neue Schule“ sieht auf das, was es an Antwort auf die Situation gibt. Noch mehr und besser gesagt: Sie sieht die genannten Symptome als Herausforderung, einen ganz neuen Typ von Schule zu schaffen. Und dieser Herausforderung stellen sich immer mehr Eltern, Lehrer – und auch Schüler. Und gerade dies ist die eigentlich interessante Zeitenstimme.

Wir kennen z. B. seit langem die Initiative der Waldorfschule. Oder seit kurzer Zeit die Sudbury-Schulen. Aber der Prozess ist sehr viel umfassender. In Deutschland wird pro Woche im Schnitt eine neue Schule in freier Trägerschaft gegründet. So die Analyse von „Die Zeit“ vor wenigen Monaten. Immer mehr Eltern und Lehrer nehmen die Sache mit der Schule selbst in die Hand. Viele der genannten neuen Schulen greifen auf die Pädagogik Montessoris zurück.

Die Literatur zum Thema ist beträchtlich, auch in Medien wie Stern, Spiegel, Focus und Die Zeit ist die „neue Schule“ immer wieder ausführlich Thema. Mit dem Beginn des neuen Schuljahres begegnen wir dieser „Stimme“ besonders häufig. Ein mir als das Standartbuch für modernen Unterricht besonders empfohlenes Buch ist: Heinz Klippert: Eigenverantwortlich Lernen. Dann: Enja Riegel: Schule kann gelingen. Enja Riegel ist die Leiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden.

 

Die neue Sicht der Dinge. Im folgenden zitiere ich – unsystematisch – aus: „Süddeutsche Zeitung. Wissen. Die neue Sicht der Dinge“ vom Oktober 2008. Um eine neue Sicht der Dinge geht es tatsächlich. Und der Geist Gottes, dem wir in der Spurensuche nachgehen, zeigt sich besonders auch eben in einer neuen Sicht der Dinge. Gepaart mit einem überdurchschnittlichen Engagement der Gestalter und Gestalterinnen.

 

„Nebenwirkungen“.

„Die Schule hat heute so viele ungewollte Nebenwirkungen wie ein Medikament“(20).

Jeder fünfte Schüler leidet an psychosomatischen Störungen. So das Ergebnis einer europaweiten Untersuchung von 200 000 Kindern. Stress-Kopfschmerzen als häufigste Krankheit, gefolgt von Allergien und Stress- Bauchschmerzen.

„Je häufiger Kinder in der Schule Opfer von Sticheleien und Bloßstellungen durch Lehrer werden, desto öfter traten die Bauch- und Kopfschmerzen auf.“

Und welcher Lehrer hält Bloßstellung nicht für ein richtiges und wichtiges pädagogisches Mittel?!

 

Freiheit und Verantwortung.

„Kopfschmerzen, Frust und Stress: Immer mehr Schüler leiden unter burn-out. In neuen Unterrichtsmodellen bekommen sie mehr Freiheit und Verantwortung – und plötzlich macht ihnen das Lernen wieder Spaß.“ (2)

„Dass Druck kein Mittel ist, Kinder zum Lernen zu bewegen, ist längst bewiesen. So sagt Manfred Spiezer, Direktor des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm: ‚Wenn ich mit Angst unterrichte, wird das Gelernte zwar abgespeichert, ist aber mit der Angst gekoppelt. Beim Abrufen wird auch die Angst wieder abgerufen und damit die Kreativität gehemmt.’ Dabei gibt es Schulen, die zeigen, wie es besser geht. Die Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen gehört dazu oder die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, die ausgezeichnet bei der Pisa-Studie abschnitt. Eine Schule, in der die Kinder altersgemischt unterrichtet werden, wo Projektarbeit geübt, Theater gespielt wird und die Schüler wichtige Dinge mitentscheiden. Die ehemalige Schulleiterin Enja Riegel sagt: ‚Eine gute Schule muss sich von der Illusion gleichartiger Lernschulen verabschieden und den Schülern ermöglichen, echte Erfahrungen zu machen.’“ (20)

Gerade die Helene-Lange Schule hat so etwas wie Kultstatus in der hier betrachteten Landschaft.

 

Motivationsarbeit. Spaß am Lernen. „Den Unterricht auf das freie, freudige Lernen“ öffnen. So finden Kinder Spaß am Lernen. Ein verdächtiges Wort? Schluss mit lustig auch hier? Oder eben halt doch das Schlüsselwort zu allem Gelingen. Etwas aus Freude machen, weil es mir schmeckt. Freude an der Schule und dem, was dort geschehen soll, wecken. In der Sprache Kentenichs: Nicht so sehr Setzen auf „Bindung nach unten“ (Gesetz, Pflicht, Disziplin, Kontrolle), als vielmehr Freiheit lassen, aber dann umso mehr „Geistpflege“, sprich Motivationsarbeit.

„Demnach waren jene am erfolgreichste, die motiviert waren, die eigene Lernstrategien entwickelt hatten und sich zutrauten, ihr Lernen selbst zu steuern. Für Schulleiterin Enja Riegel ein vertrautes Phänomen: ‚Wenn Schüler Freude am Lernen haben, wenn sie gelernt haben zu lernen, löst das eine regelrechte Explosion im Gehirn aus.’“ (24)

„Im Gegensatz zum sturen Auswendig-Lernen, das von Kritikern ‚Bulimie-Pädagogik’ genannt wird – schnell das Notwendige hineinstopfen und nach der Prüfung wieder raus damit – bringt eine selbstmotivierte Auseinandersetzung mit dem Stoff, die Chancen, dass Wissen sich fest verankert:“ (24)

 

Individuelles Tempo. Es ist notwendig, den Kindern „ihr individuelles Tempo, ihren eigenen Lernstil zu lassen“ (23).

„Spätestens, wenn solche Kinder ins dreigliedrige Schulsystem einsortiert werden, bekommen sie in der Regel große Probleme. Die Bildungsforscherin Elsbeth Stern vom Berliner Max-Planck-Institut betont: ‚Menschen sind unterschiedlich, und sie profitieren von ihrer Unterschiedlichkeit. Das dreigliedrige Schulsystem beruht aber auf drei Begabungstypen, die es einfach nicht gibt. Und auch den Anforderungen der Wirtschaft wird es nicht gerecht – dieses Schulsystem bedient niemanden mehr.’“ (23 f.)

Herausforderungen bestehen.

„Schließlich ist Eigenverantwortung keineswegs mühelos – das wird häufig missverstanden.“ (25)

Nicht als Spaßpädagogik diskreditieren!

„Schließlich würden Kinder Herausforderungen förmlich suchen. Die Herausforderung aber finden sie gerade dann, wenn sie für ihr Lernen, ihre Gemeinschaft verantwortlich sind.“ (25)

„Und Kinder brauchen Aufgaben, an denen sie wachsen können. Jedes Kind hat den Drang sich auszuprobieren und zu zeigen, dass es etwas kann!“ (28)

„Kinder suchen immer nach Herausforderungen, die ein bisschen über dem liegen, was sie bereits können.“ (28)

„Es gibt keine Motivation von außen. Wir haben lediglich die Möglichkeit, die Motivation, die ein Kind von vorneherein mitbringt, nicht kaputt zu machen.“ (28)

„Aus der Perspektive des Kindes – und das ist die einzige, die in diesem Zusammenhang zählt – gibt es nur Aufgaben, die es sich selbst sucht. Wenn Eltern oder Erzieher zu wissen glauben, was das Beste für das Kind ist, sind das lediglich Pflichten, die das Kind nicht für sich, sondern für seine Eltern erfüllt.“ (28)

 

Die starke Persönlichkeit.

„Wichtig ist nicht, die Kulturgüter zu überliefern, sondern den Geist anzuzünden, der die Kulturgüter hervorgebracht hat. Dann bekommen wir von ganz allein hervorragende Weltentdecker.“ Dabei handelt es sich um „die sogenannten Metakomponenten (…). Dazu gehören Empathiefähigkeit, Frustrationstoleranz oder Impulskontrolle. Nur wenn ein Kind diese Fähigkeit ausbilden kann, wird es zu einer starken Persönlichkeit heranwachsen. Aber man kann das nicht unterrichten, auch keine Noten dafür vergeben, also kommen diese Qualifikationen in den meisten Schulen nicht vor“. (29)

 

Und die Disziplin?

„Lob der Disziplin“ heißt ein viel beachtetes und auch kritisiertes Buch des langjährigen Leiters des Internats Salem am Bodensee. Es fehlt an Disziplin. An Pädagogen, die Grenzen setzen, nicht nur in der Schule, sondern auch in der Familie. Das ist jedenfalls ein viel gehörtes Urteil über unsere Zeit.

„Ein fataler Trugschluss! Das Kind soll in eine Form gepresst werden. Strengere Regeln, mehr Druck und schärfere Maßnahmen führen aber nicht zur Disziplin, sondern nur zu Gehorsam, und gehorsame Menschen hatten wir im letzten Jahrhundert zur Genüge.“ (28)

 

Regeln.

„Auch Disziplin hat mit Erfahrung zu tun: Es geht darum, dass Kinder die Gelegenheit haben, den Nutzen von Regeln zu erleben.“ (28)

Lernen, Regeln selbst und gemeinschaftlich zu erarbeiten. „Regeln als sinnvoll und notwendig zu erleben.“ (29) Es geht also nicht nur um Spaß.

„In dem Moment, in dem Eltern alle Schwierigkeiten von ihrem Kind fernhalten, schränken sie es wieder ein und machen es unfrei. Ein Kind braucht die Möglichkeit, auf Berge zu steigen!” (29)

Es will allerdings dabei begleitet sein.

 

Gesundheit.

„Eine Studie der holländischen Universität Leiden hat Schüler begleitet, die von einer Regelschule auf eine demokratische Schule wechselten. Aggressionen und Angst nahmen deutlich ab, ebenso Einschlafprobleme und Bauchschmerzen. Während auf der konventionellen Schule bis zu 70 Prozent der Kinder hin und wieder Bauchschmerzen hatten, waren es auf der demokratischen Schule keine 20 Prozent mehr. Und auch den Lehrern geht es besser.“ (25)

 

Rolle des Lehrers.

„Die Lehrer werden sich zu Lernbegleitern entwickeln, die den Schülern bestmögliche Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen, und nur da eingreifen, wo es nötig ist. Statt eines detaillierten Lehrplans werden wir noch mehr auf Kompetenzbeschreibungen umstellen, die von den Schulen individuell umgesetzt werden.“ (Kultusminister Siegfried Schneider, München) (25 f.)

 

Widerstände.

„Wer heute an öffentlichen Schulen Reformen durchsetzen will, agiert immer gegen den ‘Mainstream’, sagt die Reforpädagogin Enja Riegel. Gegen die Vorbehalte von Politikern, Lehrern und Eltern, die alle in einem völlig anderen Schulsystem groß geworden sind. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass Schüler freiwillig lernen.“ (29)

Und doch ist viel in Bewegung geraten.

„Wir müssen das System der Dressur- und Abrichtungsschule überwinden, dafür braucht es mutige Eltern, Lehrer und Rektoren. Ich bezweifle, dass das staatliche System diesen Sprung schnell genug schafft. Die Privat- und Alternativschulen werden sich immer mehr durchsetzen. Aber ich bin zuversichtlich: Es ist wunderbar viel Bewegung zu spüren.“ (29)

 

Gesetzlicher Freiraum.

„Eben hat das Ministerium die sogenannte Modus-21-Schulen im Gesetz verankert: Jede staatliche Schule kann sich um diesen Status bewerben, der mehr Selbständigkeit in Unterrichtsgestaltung und Schulorganisation garantiert.“ (26)

 

Arbeit mit der Zeitenstimme „neue Schule“. Nicht nur da, wo es um Schule geht, sondern ganz allgemein, da wo es um Umgang mit Pädagogik geht, stellt das Gesagte eine Herausforderung dar. Eine Herausforderung an eine neue Lesung des pädagogisch für richtig Gehaltenen.

Selbstkritik. Und da ist Selbstkritik vielfach zunächst einmal angesagt. Kommt in unserer katholischen Erziehung nicht zu viel das Wort erziehen, Forderungen stellen, prägen, schulen, verkünden vor? Und zu wenig Worte wie Selbstwerdung, Selbstentfaltung, Selbstgestaltung, Selbstverwirklichung?

Religiöses Gebiet. Und wie verhält sich dies alles auf dem spezifisch religiösen Sektor? Auch da gilt möglicherweise, dass jeder Mensch religiös sein will und es zutiefst ist, wenn er selbst es entdecken und leben darf.

Der pädagogische Impuls Joseph Kentenichs. Dabei hat gerade Kentenich 1910 seine Tätigkeit als Lehrer unter reformpädagogischen Gesichtspunkten begonnen. Nicht allzu viel war allerdings damals in der konkreten Situation möglich. Und doch finden wir dort alle programmatischen Worte, die in diesem Beitrag zur „neuen Schule“ zu finden sind: Selbsterziehung, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit, Stärke der Persönlichkeit, Freiheit, Verantwortung, selbst es tun, durch Erfahrung lernen, auch durch Fehler.

 

Kontakte.

Der Artikel ist nicht zuletzt durch Kontakte angeregt, die ich in meinem Milieu mit zwei Lehrerinnen habe, die in einer staatlichen Schule bzw. in einer Schule in freier Trägerschaft konzeptionell und führend an einer „neuen Schule“ basteln.

Nennen will ich auch die Schule St. Jakob von Imelda und Erich Ruggli in der Schweiz. Letztere kommt aus der Tradition der Pädagogik Kentenichs. Aus dieser sind in Ländern wie Portugal, Spanien, Chile, Argentinien ebenfalls Schulen entstanden.

Neuer Mensch und neue Schule.

Das Schulproblem ist ja nicht nur ein spezifisch deutsches Problem. Und der Gottesgeist schafft Neues eben an vielen Orten, nicht nur als Antwort auf Probleme, sondern auch als Artikulierung eines neuen Geistes und einer neuen Sicht des Menschen. Eines Menschen, der in Freiheit und Eigenverantwortung einen freien und verantwortlichen „neuen Menschen“ darstellen und schaffen will. Der begriffen hat, dass in dem Maße das geschieht, auch die Probleme weniger werden.

 

Neues Buch. Ich darf zum Schluss auf mein in den nächsten Tagen erscheinendes neues Buch hinweisen: Freiheit und Verantwortung. Studien zu Joseph Kentenichs Projekt des „neuen Menschen“.

Herbert King