Wie wird man ein Schmetterling?

Hingeschaut

   Foto: Heike Bulle

Folgendes habe ich kürzlich gelesen:

„Wie wird man ein Schmetterling?“
fragte die Raupe nachdenklich.
„Du musst so sehr fliegen wollen, dass Du bereit bist, Deine Existenz als Raupe aufzugeben.“
lautete die Antwort.

Ich denke, die Geschichte muss unbedingt weitererzählt werden:

Die Antwort machte die Raupe sehr traurig.
So einen starken Willen würde sie nie aufbringen können. Das war ihr ganz klar.
Völlig entmutigt erzählte sie es ihrer engsten Vertrauten.
Diese fragte zuerst: „Von wem hast Du denn diese wundersame Weisheit?“
Die kleine Raupe überlegte, doch sie konnte es nicht sagen.
„Ich habe sie oder ihn nicht gesehen….“
„Dann kannst Du auch nicht wissen, ob es ein echter Schmetterling war.“ antwortete die Freundin.

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    „Wir müssen einen Schmetterling fragen. Nur ein echter Schmetterling kann es wirklich wissen und uns sagen, wie man einer wird.“
    Das klang einleuchtend.
    Und so machten sie sich auf den Weg.
    Nach wenigen Metern aber blieb die kleine Raupe schon wieder stehen.
    „Und was, wenn wir keinen finden?“ fragte die Raupe immer noch mutlos. „Oder, wenn wir den Weg nicht schaffen? Wenn wir unterwegs gefressen werden…? Dann schaffen wir es nie zu fliegen und sterben als unvollkommene Raupe…“ sie weinte fast.
    „Das ist unmöglich.“ sagte die Freundin. „Als Raupe sind wir schon vollkommen. Und auch wenn ich noch nicht weiß wie, ich bin sicher, dass wir eines Tages Schmetterlinge sein werden.“
    „Ach, und was macht dich da so sicher?“ Die kleine Raupe war mittlerweile mehr von dem Gerede genervt als von ihrer Suche beunruhigt.
    „Es ist so eine Ahnung. Nein, eigentlich ist es sogar eine Art innere Gewissheit. Es kann gar nicht anders sein.“ versuchte die Freundin sich zu erklären. Aber damit konnte die kleine Raupe auch nichts anfangen und verdrehte ihre kleinen Augen.
    Tief versunken in ihre Ratlosigkeit riss sie ein Geräusch aus ihrem Grübeln, das sich anhörte wie… tatsächlich: Flügel! Sie trauten ihren Augen nicht: Ein echter Schmetterling setzte sich genau neben sie. Mit großen Augen schaute sie ihn staunend an. Es war, als würde er all ihre Fragen kennen und ohne, dass einer von ihnen auch nur ein einziges Wort sprach, war ihr plötzlich alles klar.
    Beide lächelten und der Schmetterling flog wieder davon.
    Auch die Freundin lächelte. Auch sie hatte verstanden.
    Es geht nicht ums Wollen, ums Selbermachen. Es ist vielmehr ein Geschehenlassen.
    Die Theologen nennen es Gnade. Ein Geschenk. Von wem? Wenn ich an Gott glaube: von ihm, wenn nicht, dann vielleicht einfach von der Natur, dem Leben.
    Es ist eine tief in uns angelegte Kraft, die wir völlig unverdient mit in die Wiege gelegt bekommen haben. Dagegen können wir gar nichts machen. Aber wir können dieses Geschenk lange ignorieren: unausgepackt in der Ecke stehen lassen, z.B. weil wir uns vor dem Inhalt fürchten oder endlos nach der besten Methode forschen, es auszupacken…

    Heike Bulle