Date:29. Apr 2016

Syriens Tauben

 Zeichen der Zeit

Kinder - Foto: Harald Schottner - pixelio.de

Foto: Harald Schottler – pixelio.de

Syriens Tauben fliegen über mein Land

„Mama, ich blute“, ruft meine Tochter von draußen. Ihre Stimme dringt durch das geöffnete Küchenfenster. Panisch schiebe ich die Töpfe vom Herd und greife nach dem Küchentuch. Auf dem Weg nach draußen trockne ich mir die Hände ab und lege es gedankenlos irgendwo hin. „Ich komme, mein Schatz“, rufe ich mit eilenden Schritten, um uns beide zu beruhigen. Da sitzt sie auf den Pflastersteinen und schaut mich hilfesuchend an. Der Roller liegt hinter ihr. Eine kleine Schramme am Knie, und ja, da ist Blut zu sehen. Ich nehme meine Tochter auf den Arm und tröste sie. „Wollen wir ein Pflaster holen?“, frage ich. Sie nickt ganz ernst, schließlich sie ist ja auch verletzt. Zehn Minuten später rollt der Roller wieder über die Pflastersteine und ein fröhliches Kinderlachen stimmt in das Gewirr  der Geräusche einer Stadt ein. Am Abend ruft sie mich nochmal an ihr Bettchen. Ihr großer Bruder schläft bereits. „Mama, ich kann nicht schlafen, singst du mir noch Peterle, bitte?“  Also gut. Ich krabble zu ihr unter die Decke.

„Schlafe, Peterle, schlafe! Der Mond hat goldene Schafe…“, singe ich die letzte Strophe, aber meine Gedanken schweifen ab. Grauenvolle Bilder sind meinem Kopf gefangen. Tote Kinder. Ermordet, hingerichtet und zur Schau gestellt. Was sind das für Menschen, die unschuldige Kinder auf grauenvollste Weise aus dem Leben reißen? Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Ich möchte schreien und weinen. Ich denke an die Eltern dieser Kinder. Die Terroristen des sogenannten IS kennen kein Erbarmen, sie töten die Kinder vor den Augen der Eltern…

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    Ganz fest nehme ich meine Tochter in den Arm. Ich singe weiter das Peterlelied und versuche damit diese Gedanken wegzuschieben. Wie gut, dass wir nur ein Pflaster brauchten, um unsere Welt wieder in Ordnung zu bringen.

    Ist sie wirklich in Ordnung, diese Welt? Während wir hier mitunter über Belanglosigkeiten streiten und ein Leben in Überfluss genießen, verlieren 3000 km weiter östlich die Menschen ihr Leben und alles was ihnen lieb und teuer ist. Während wir die Nachrichten aus dem Nahen Osten sehen, hören – und vergessen – verbluten und sterben Menschen in Syrien. Während wir in aller Ruhe unserem Alltag nachgehen, sind Millionen Menschen auf der Flucht, ertrinken in den Ozeanen oder werden ungeliebt in Containern untergebracht. Auch ich gehöre zu dieser westlichen Welt, bis mich die Augen des Mädchens auf einem Foto wachrüttelten: Ihre Augen schreien vor Angst. Stumm sehen sie mich an. Und ich starre auf meinen Bildschirm.
    Ein Mädchen, es ist höchstens acht Jahre alt. Ich kann nicht erkennen, was es erlebt hat. Aber man spürt deutlich, dass etwas geschehen ist, was kein Kind sehen oder erleben sollte. Ein Bild, das sich in meinem Kopf festsetzt.

    Warum mich dieses Bild gefangen hält, liegt einige Zeit zurück.

    Im September 2013 erhielt ich eine Anfrage, ob ich zu einer Diskussionsrunde der politischen Lage in Syrien gehen könnte, um darüber für die Kirchenzeitung zu berichten. Kein leichtes Thema.

    Syrien, ein Land, das mir völlig fremd ist. Irgendwie gibt es dort Krieg. Genaues weiß ich über das Land und den Nahen Osten nicht.
    Ich beginne zu lesen, zu recherchieren. Mir erschließen sich neue Zusammenhänge, und ich werde mit Bildern konfrontiert, die mich sehr beschäftigen. Das Internet ist voll von Berichten und Bildern. Das Mädchen auf dem Foto gräbt sich in mein Gedächtnis. Diese Angst in ihren Augen… Sie haben etwas gesehen, das dieses Mädchen nie vergessen wird. Das nimmt mich in die Pflicht. Ich will über diese Podiumsdiskussion berichten.
    Es ist dunkel und schon recht kühl für einen Septemberabend, als ich mich auf den Weg mache. Normalerweise nehme ich gern mein Rad, aber heute fahre ich mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Da ist es leichter meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.
    Bei meiner Ankunft sind erst wenige Leute im Raum. Doch als der Abend beginnt, hat sich der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Publikum ist bunt gemischt. Studenten und Rentner, Einheimische und Menschen anderer Nationen sind gekommen um zu hören, was Pierre Archid und Bahaa Dwaji zu berichten haben. Beide sind syrische Studenten. Ich bin aufgeregt. Schnell wische ich mir die feuchten Hände an der Hose ab, umklammere meinen Schreibblock und halte den Fotoapparat griffbreit.
    In einem kurzen, informativen Einführungsfilm erfährt der Zuschauer Hintergründe zur politischen Lage in Syrien. Es stellt sich die Frage fast wie von selbst, wie die Menschen mit einer solchen Religionsvielfalt vor diesem „Bürgerkrieg“ zusammen gelebt haben.

    1985 wurde Pierre Archid in der Nähe von Daraa geboren wurde. Er erzählt, dass die Menschen in Syrien gut miteinander ausgekommen sind. Es habe nur wenig Streit gegeben, trotz unterschiedlich gelebter religiöser Traditionen. Pierre Archid ist mit vielen Andersgläubigen befreundet. Er selbst ist Christ und gehört zur katholischen Minderheit Syriens. In seinem Heimatdorf habe er sich immer wohl gefühlt und sich nicht für Politik interessiert. Ganz ehrlich und offen sagt Piere Archid, dass er immer al Assad gewählt habe.

    Nach 30 Jahren Hafis al Assad löste im Jahr 2000 sein Sohn Baschar al Assad – gerade mal 34 Jahre alt – den Vater im Präsidentenamt ab. Er hatte in Großbritannien Medizin studiert und galt als Hoffnungsträger. Nicht nur im Dorf Piere Archids sorgte er für Wasserversorgung und Stromanschluss, baute Krankenhäuser und Schulen. Nur die fehlende Demokratie blieb unverändert. Im Podium wurde die Frage aufgeworfen, warum es dann trotzdem zu solch verheerenden Ausschreitungen gekommen sei?

    Der Student Bahaa Dwaji, der 1983 in Latakia geboren wurde, gehört wie Assad zu den Alewiten. Er berichtet von überfüllten Universitäten und einer hohen Arbeitslosenquote besonders unter der Jugend. Die Ursache liege darin, dass es im letzten Jahrhundert ein starkes Bevölkerungswachstum gegeben habe und derzeit das Durchschnittsalter bei 21,9 Jahren liege. Erschwerend kämen die wirtschaftliche Lage und außenpolitischen Beziehungen und Bündnisse dazu. „Die vielen kleinen Details“, wie es Dwaji bezeichnet, gingen ineinander über und führten zur großen Unzufriedenheit der Syrer.
    2011 begann eine friedliche Revolution, deren Vorreiter der Ägyptische Frühling war. „Es war ein Aufstand für Freiheit. Aber es wurde zur Katastrophe: nicht Frühling, sondern Herbst.“ So beschreibt es Piere Archid.
    Auf beiden Seiten wurden Fehler gemacht. Assad ging viel zu aggressiv vor. Die Situation geriet schnell außer Kontrolle. Innerhalb von sechs Monaten kamen 10.000 Menschen ums Leben.
    Dwaji spricht von „Verschwörungstheorien”, nach denen die Leute nur ausgenutzt wurden. Es sei schon lange kein Bürgerkrieg mehr. Unter die Demonstranten hätten sich ausländische Rebellen gemischt, deren Ziele nichts mit denen der syrischen Bevölkerung zu tun hätten. Dwaji blickt kritisch auf die westliche Welt. „Der Westen sieht verschwommen“, sagt er. Die Menschen, eingekeilt zwischen Rebellen und Regierung, wären aus dem Blick geraten. „Da spielen noch ganz andere Dinge eine Rolle.“

    Über die Einmischung Amerikas sind sich die beiden Studenten einig. „Hier geht es nicht um eine Lösung für den Frieden, sondern um Macht und darum, Syrien, die „Spitze Russlands“, schwach zu halten.“

    Auch sind sind Dwaji und Archid einer Meinung, als es in der Podiumsdiskussion um die Frage nach den Verantwortlichen des Giftgaseinatzes geht. Beide vermuten, dass dies nicht von Assad ausging, der ja die Konsequenzen hinterfragen müsse. „Die Regierung ist nicht so dumm“, meint Dawji und macht die Rebellen verantwortlich. Piere Archid gibt zu bedenken, dass es keine „besseren oder schlechteren Waffen” gebe: „Giftgas geht nicht, aber Raketen?“

    Was die beiden Studenten erzählen, ist spannend und erschütternd zugleich. Beiden kamen vor zwei Jahren mit einem Stipendium nach Weimar und studieren dort Architektur. Es gäbe an diesem Abend noch viele Fragen. Aber der Moderator stellt die Frage nach Lösungen in den Raum.
    Piere Archid hat kaum Hoffnung für eine Lösung. Und auch B. Dwaji meint, „dass man einen demokratischen Weg finden muss, Schritt für Schritt, aber eigentlich gibt es keine Lösung.“ Beide wünschen sich: „Keine Waffen mehr!“ Davon gebe es schon genug in Syrien.

    Die Studenten leben in ständiger Angst, um ihre Familien und Freunde. Bei jedem Austausch mit der Heimat, schwebt die Sorge mit, ob jemand verletzt oder getötet wurde. Millionen Menschen sind bereits geflohen. Weitere Millionen Menschen sind auf der Flucht. Viel zu viele Tote hat der Konflikt in Syrien bereits gefordert…

    Was können wir in hier in Deutschland tun?

    Der Abend klingt bei arabischer Musik und Gesang aus. Und ich? Ich fahre mit der Straßenbahn zurück nach Hause, betroffen vom Schicksal der Syrer.
    Am nächsten Tag beginne ich zu schreiben, zu denken, zu schreiben. Der Artikel soll rechtzeitig in die Redaktion. Aber ich beginne und lösche und beginne wieder von vorn. Es will mir nicht gelingen, die vielen Fakten zu ordnen.

    Ich gebe auf und beschließe, lieber mit meinen Kindern die frische Luft zu genießen. Meine Gedanken kreisen um die Bilder aus dem Netz. Ich möchte die Menschen mit meiner journalistischen Arbeit aufrütteln.

    Jetzt fängt alles erst an. Die syrischen Tauben fliegen über mein Land. Sie schreien um Hilfe. Sie bitten und flehen um Frieden. Ich habe ihr Gurren gehört und kann es nicht länger ignorieren. Nicht als Mutter, nicht als Christin.

    Ein Bild aus dem Internet schlägt mir auf den Magen. Ein Vater hält seine kleine Tochter im Arm. Ihr Gesicht ist blutüberströmt. Ihr kleiner Körper liegt leblos in den Armen des Vaters. Die Beinchen hängen herab. Die Füßchen stecken in Sandalen, und sollten sie nicht eigentlich fröhlich umher springen.

    Buchhandlungen gehören schon immer zu den Läden, in denen ich stundenlang verweilen kann. Nachdem ich meinem Artikel geschrieben habe, sticht mir ein Buch von Rupert Neudeck ins Auge: „Syrisches Tagebuch. Es gibt ein Leben nach Assad“. Ich verschlinge die ersten Seiten noch an Ort und Stelle. Nach und nach füllt sich mein Bücherregal mit Lesestoff über Syrien, über die Menschen, über den Krieg und seine Zusammenhänge.
    Zeit zum Lesen bleibt einer Mutter nur nachts. Ob Bücher von Ambruster, Todenhöfer oder Yazbek – sie lassen mich nicht mehr in Frieden schlafen. Während ich wohlig warm und sicher in meinem Bett liege, sind Millionen Menschen auf der Flucht. Während mein Mann ruhig neben mir und meine Kinder friedlich, jedes in seinem Zimmer, im tollen Hochbett schlafen und süß träumen, bangen tausende Kinder in Syrien um ihr Leben.

    Ich hatte schon viel über die Zeit des Nationalsozialismus gelesen. Das hat mich auch berührt und wütend gemacht, aber es gehört der Vergangenheit an. Das ist vorbei. Der Krieg in Syrien dagegen wütet in diesem Moment. Ich fühle mich machtlos und hilflos. Es lässt mich nicht mehr ruhig schlafen.
    Was kann ich tun? Wirklich nichts?

    Immer wieder umkreisen die Gedanken meinen Alltag, weil es mich nicht mehr loslässt, erzähle ich meinen Freunden und Bekannten davon. Aber ich werde das Gefühl nicht los: Es interessiert nicht wirklich. Syrien ist doch weit weg! – Genau! Syrien liegt 3000 km entfernt von hier. Was wir in den Nachrichten erfahren, sind häufig nur Auszüge und Einzelaspekte. Wo findet man Informationen im Überblick? Samar Yazbek berichtet in ihrem Buch: „Schrei nach Freiheit“ über die blutigen Demonstrationen gegen das Regime. Die Assad-Regierung lässt das eigene Volk verbluten, verhungern, verrecken.

    Die Revolution kam durch Kinder ins Rollen. Ein paar Jungen, die vom „Arabischen Frühling” in den Medien hören kritzeln – mutig oder leichtsinnig? – ein paar Wörter an eine Hauswand: „Nieder mit der Korruption!“ Das Regime reagiert mit äußerster Brutalität. Das wiederum treibt immer mehr Menschen auf die Straßen. Ein Flächenbrand.

    Hochburgen der Demonstrationen sind Städte wie Homs, Hama, Daara oder Idlib. Assad lässt Wasser und Strom abdrehen und untersagt jegliche Versorgung. Abgeriegelt vom Leben… Doch die Menschen geben nicht auf. Sie kämpfen für ihre Freiheit, für Gerechtigkeit und ein Leben in Würde. Der „arabischen Frühling” hat viele angesteckt. Niemand ahnt, dass es ein bitterkalter Winter werden würde… Das syrische Volk würde noch manches erdulden müssen, sogar Giftgas und Fassbomben.

    Die Lage eskaliert, gerät außer Kontrolle. Rebellen aus anderen Ländern nutzen das Chaos um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Darunter der IS. Noch ahnt niemand die Gräueltaten, mit denen diese Terrororganisation der Welt den Atem nehmen wird. Selbst Rupert Neudeck und sein Team haben das Land längst verlassen, nachdem drei seiner Grünhelme wochenlag entführt waren.

    Was könnte ich da ausrichten?

    Kaum könnte ich die Koffer packen und nach Syrien reisen. Abgesehen von der realen Gefahr kann ich meine eigene Familie nicht zurück lassen. Immer wieder gehen meine Gedanken zu den Menschen nach Syrien. Ich verfolge jede Nachricht in den Medien.

    Gedankenverloren nehme ich Wäsche von der Leine und lege sie zusammen. Während ich den Schrank meines Sohnes öffne und versuche, die Fünf Pullover zu den anderen gefühlten 20 hineinzuquetschen, muss ich an Menschen auf der Flucht denken, die wahrscheinlich nicht mal die Hälfte mitnehmen konnten. Keine Ahnung, was ich schnell einpacken würde, wenn ich mein Land verlassen müsste. Man kann versuchen sich in Flucht hinein zu fühlen. Aber es gelingt nicht wirklich.

    Mir fällt die Flucht meiner Oma ein. Hundertmal erzählte sie mir das: Wie sie mit ihrer Mutter mit einem Handwagen von Schlesien bis nach Thüringen flüchtete. Den Vater mussten sie irgendwo begraben. Ein Zurück gab es nicht. Als Kind war ich geschockt! Dabei wird mir meine Oma sicher die schlimmsten Details ihres Lebens gar nicht erzählt haben. Aber heute bin ich dankbar, dass sie mir eine Sensibilität hinterlassen hat, mich einzumischen und mich nicht aus der Verantwortung zu stehlen, wenn Menschen Hilfe bitter nötig haben.

    Immer noch stehe ich vor dem Schrank meines Kindes und halte die Pullis in Händen.

    Braucht mein Sohn so viele Sachen?! – Heute kann ich es kaum erwarten, bis er endlich aus der Schule heimkommt. Noch ist es erst eine Idee, die mir im Herzen brennt. Doch sicher wird auch mein Sohn sie gut finden.

    Ein paar Wochen später bringen wir aufgeregt die Sachen zur Caritas. Dort haben wir uns mit einer Familie aus Aleppo verabredet. Mein Englisch ist schlecht. Arabisch verstehe ich überhaupt nicht. Noch nie im Leben bin ich mit Muslimen in Berührung gekommen. Mein Herz klopft schnell als wir uns gegenüberstehen: Rozin, eine schöne junge Frau mit drei Jungen. Ihre Augen und ihr Lachen nehmen mir die Angst vor den Fremden. Wir trinken Kaffee und versuchen uns mit Händen und Füßen und schlechtem Englisch zu verständigen. Die Kinder spielen sofort miteinander. Am Ende tauschen wir die Handynummern aus. Der Anfang einer Freundschaft. Zum Glück gibt es ja für fast alles eine App. Auch eine zum Übersetzen. So konnten wir uns im Notfall immer weiter helfen, auf dem Weg in neues Leben. Ein Leben mit einer neuen Sprache, anderen Lebensmitteln, neuen Denkweisen und Traditionen. Für uns beide.

    Ist es einfach nur Gleichgültigkeit, die in der Luft liegt oder die Ängstlichkeit vor Veränderung?

    Rozin und ich beschließen mit Hilfe eines Freundes Syrische Abende zu gestalten. Wir wollen die Menschen mit der Geschichte Syriens, dieser für viele noch sehr fremden Welt, berühren. Wir wollen sie mitnehmen in dieses Land aus tausendundeiner Nacht. Es ist gar nicht so schwer, Menschen mit offenen Armen willkommen zu heißen. Während der Vorbereitungen war ich hautnah eingebunden an die Lebensgeschichte meiner Freundin Rozin. Das hinterlässt Spuren.

    Vor dem ersten dieser Abende hatte ich Angst. Auf einer großen Leinwand präsentierten wir Syrien vor und während des Krieges. Ich hatte Angst, die Menschen die ihre Heimat verlassen mussten, würden an schlimme und emotional belastende Situationen erinnert. Ich hatte Angst, dass das über ihre Kräfte ginge.

    Doch während Rozin und ich unsern Vortrag halten, sehe ich die Augen der Menschen, die gekommen sind: Tränen in denen der Deutschen, glänzend auch die syrischen. Aber vor Freude und Stolz, weil wir uns ihr Land ansehen, Fragen stellen, uns für ihr Leben interessieren! Ihre Augen glänzen, weil wir uns begegnen: Syrier und Deutsche, Christen und Muslime, vor allem aber als Menschen, die miteinander ins Gespräch kommen.
    Wieder fahre ich mit der Straßenbahn durch meine Stadt. Einige Monate sind vergangen. Mit mir fahren viele Menschen, ganz bunt gemischt. Mit und ohne Kopftuch.

    Ich habe keine Angst. Warum auch? Mir fehlt doch nichts. Mein Leben ist seit der Ankunft von Menschen aus der arabischen Welt keineswegs gefährlicher geworden. Im Gegenteil konnte ich neue Menschen kennen lernen, andere Traditionen, neue Sprachen. Die Süße der Speisen zergeht mir auf der Zunge. Und eine völlig andere Musik öffnet meine Sinne…

    Ich entdecke: Meine Stadt ist bunter geworden. Lange Röcke und glitzernde Tücher wehen im Wind. Über meiner Stadt schwebt ein Hauch des Zaubers von tausendundeiner Nacht. Märchenhaft….

    ©Nicole Elß