Date:07. Apr 2010

Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen- und kein Ende

Zeichen der Zeit

Schwan

Foto: H. Brantzen

Der Orkan – so muss man es wohl nennen – der im Zusammenhang mit dem Thema sexueller Missbrauch in unserem Land in den letzten Wochen völlig unerwartet und mit größter, immer noch wachsender Heftigkeit vor allem über die Katholische Kirche hereingebrochen ist, soll auch heute noch einmal Thema meines Beitrags zum Thema Zeitenstimmen sein.

Auch wenn wir als Vertreter von Kirche – ich bin selbst Priester dieser Kirche –

“nicht mit dem Finger zuerst auf andere zeigen…Man könnte sonst dem Eindruck kaum entrinnen, man wolle von der eigenen Verantwortung ablenken oder das Geschehen relativieren… Freilich darf man sich auch nicht den Mund verbieten lassen und muss deutlich sagen, dass es sich offenbar um einen gesellschaftlichen Missstand handelt, den die meisten in dieser Größenordnung nicht vermutet haben.”

(Kardinal Lehman in einem äußerst lesenswerten ganzseitigen Beitrag in der FAZ vom 1. April 2006, Seite 6).

Im Bemühen, einen (sehr kleinen) Beitrag zum Ganzen der Thematik zu leisten, bringe ich zunächst eine Stellungnahme von Alice Schwarzer, der unermüdlichen Kämpferin gegen Pornographie, Prostitution und Frauenhandel. Ich zitiere sie aus dem Editorial der Frühlingsausgabe von EMMA.

“Jedes vierte bis dritte Mädchen, jeder zehnte Junge ist heute ein Opfer des sexuellen Missbrauchs…Allein in Deutschland werden nach Schätzung des Kriminologischen Instituts Hannover Jahr für Jahr etwa eine Million Kinder missbraucht, in neun von zehn Fällen sind es Mädchen. Und drei der vier Täter sind keine bösen Fremden oder Lehrer, sondern es ist der eigene Vater, Onkel, Nachbar…”

Opfer dieser frühesten und tiefsten Brechung, die einem Menschen widerfahren kann. Und die meisten leiden lebenslang an den traumatischen Folgen. Endlich reden wir also darüber. Über die Verharmlosung und das Wegsehen. Aber das bitte nicht nur in Bezug auf die Internate… Der Missbrauch ist keine Erfindung der katholischen Kirche – auch die “Sexuelle Revolution” hat eine fatale Rolle gespielt. Und Feministinnen reden seit über dreißig Jahren gegen taube Ohren… Und er hat auch nichts mit dem Zölibat zu tun…

EMMA war 1978 im deutschen Sprachraum die erste Stimme, die die Existenz von Inzest und Missbrauch zum öffentlichen Thema machte. Nachdem das siebenseitige Dossier (“Das Verbrechen, über das niemand spricht”) erschienen war, regte sich jedoch – nichts. Kein einziger Leserinnenbrief. Und das in Zeiten, in denen EMMA auf einen Bericht über Klitorisverstümmelung zum Beispiel Waschkörbe von empörten Briefen bekam. So tabu war das Thema Missbrauch.

In der Folge der EMMA-Berichterstattung jedoch entstanden die ersten Initiativen zur Hilfe für die Opfer (die Wildwassergruppen). Und 1980 erregte das Buch der Amerikanerin Florence Rush, “Das bestgehütete Geheimnis”, ein internationales Aufsehen. Zum mindesten im Westen. Das Thema war angekommen.

Doch der bittere Protest der Frauen gegen Vergewaltigung von Frauen und Kindern hatte wenig Chancen gegen den flotten Zeitgeist der “sexuellen Befreiung”. Daher machte Front von taz (Pädophilie ist ein Verbrechen ohne Opfer) bis Quick (“Die süßen Lolitas”). Ideologisch führend waren 68er, etliche von ihnen waren auch in der tonangebenden “Deutschen Gesellschaft für Sexualforsachung” aktiv, wie der Sozialpädagoge Prof. Helmut Kentler.

Es war die Zeit, in der der bekennende Pädosexuelle Kentler unwidersprochen die “freie Liebe” mit Kindern fordern und als Gerichtsgutachter in “wissenschaftlichen” Studien empfehlen konnte, straffällige Jugendliche “bei pädagogisch interessierten Päderasten” unterzubringen. So geschah es dann auch. Am helllichten Tag.

Es war die Zeit, in der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit in “Little Big Man” unbefangen über seine Erlebnisse als Kindergärtner in den Jahren 1972 bis 1974 plaudern konnte. Da nahm der “ständige Flirt mit allen Kindern bald erotische Züge” an, und passierte es dem Kinderfreund “mehrmals, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln.” Er habe dann “auf Wunsch” auch zurückgestreichelt.

Fast drei Jahrzehnte lang hat der grüne EU-Abgeordnete zu jeder Kritik darüber geschwiegen. Jetzt behauptet der Odenwald-Schüler in der Zeit, ausgerechnet diese Passage in seinen Lebenserinnerungen, sei keine Realität gewesen, sondern “Provokation”. Und ja, man habe damals “im Überschwang Fehler gemacht” und “keine klaren Grenzen gezogen”. Das ist zurüchaltend formuliert. Nur Provokation? Was für eine dreiste Behauptung!

Es war in der Tat die Zeit, in der die SPD/FDP-Regierung im Nachklapp zur großen Sexualstrafrechtsreform 1980 auch den ? 176 ersatzlos streichen wollte- der Paragraph, der den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellt. Kaum zu glauben, aber wahr: EMMA war zunächst die einzige Stimme, die sich dagegen erhob. Wir schafften es immerhin – im Verbund u.a. mit Günter Amendt, dem einst leichtfertigen, später jedoch selbstkritischen Autor von “Sexfront”-, die Streichung des ? 176 zu verhindern. Hätte EMMA damals nicht protestiert, gäbe es heute in Deutschland noch nicht einmal mehr ein Gesetz, das Missbrauch von Kindern verbietet.

Und wie kommt es eigentlich, dass der Skandal über den massiven sexuellem Missbrauch in den 1970er und 1980er Jahren in der ach so progressiven Odenwaldschule erst jetzt so richtig ernst genommen wird- obwohl doch die Frankfurter Rundschau bereits 1999 darüber berichtete? Hat das auch etwas zu tun mit der Veränderung des Zeitgeistes – und damit, dass die einstigen Propagandisten der “freien liebe” nicht mehr den Ton angeben?”

Soweit der Beitrag von Schwarzer. Und meinerseits der Hinweis: Zurkenntnisnahme von Geist der Zeit und Zeitgeist und deren Unterscheidung bleibt als große Aufgabe in unserer sehr schnellebigen Zeit uns aufgetragen.

Auch aus einem weiteren Beitrag will ich noch das eine oder andere zitieren. Unter der Überschrift “Missbrauch -die Kirche ist sich über ihre Haltung im Klaren. Und die Gesellschaft?” stellt der Rheinische Merkur folgende Überlegung an.

“Mit großer Erschrockenheit nehmen wir heute wahr, mit welcher Offenheit die Pädophilen die Reformpädagogik unterwandern konnten und sie so auch diskreditiert haben. Sie definierten Pädophilie nicht als Missbrauch, sondern als pädagogisches Programm, und keiner hat sie aufgehalten.

Ihre Bannerträger – die meisten Mitglieder der Humanistischen Union – rühmen Pädophilie im Anschluss an altgriechische Traditionen als Element des Humanismus, als Aufbruch zu humaner Sexualität mit einem “ungewöhnlich differenzierten Konzept zum Konsens” (der Bremer Sexualforscher Rüdiger Lautmann 1994 im Buch “Die Lust am Kind”), bei dem sich päderastische Verhältnisse sehr positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können” (der Sexualpädagoge Helmut Kentler 1994)…

Das alles ist nicht Geschichte. Seit Jahrzehnten hat die Pädophilen-Bewegung versucht, ihre Neigung gesellschaftsfähig zu machen. Noch heute tritt die “Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität” offen für das Recht auf sexuellen Umgang mit Kindern ein, und noch Bundesfamilienministerin von der Leyen musste eine Broschüre der Bndeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Verkehr ziehen, deren Anleitung zur Masturbation für Fünfjährige als “zeitgemäße Sexualerziehung” entschuldigt wurde. Und noch immer wird auf deutscher und europäischer Ebene versucht, die Gesetze im Hinblick auf sexuelle Kontakte zu Miderjährigen zu liberalisieren.” (Rheinischer Merkur vom 25. März 2010, 1). Unsere Bundesjustizministerin ist übrigens Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Humanistischen Union.

Auffällig ist, wieviele der jetzt öffentlich gemachten Missbrauchsfälle aus den 70er und 80er Jahren stammen.

Ich habe große Erwartungen an den Runden Tisch, der noch im April stattfinden soll und die wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte miteinander ins Gepräch über das Thema sexueller Missbrauch bringen will. Auch habe ich Hoffnung, dass es bundesweit mehr und mehr zu einem weitverzweigten Gespräch kommt über die Art, wie mit Sexualität heute umgegangen wird. Denn dass sexueller Missbrauch so schlimme Folgen hat, lässt auch einige Rückschlüsse zu auf das, was Sexualität insgesamt ist. Eine neue Behutsamkeit auf dem Gebiet der Sexualität ist nötig. Zu sehr haben wir uns an eine selbstverständlich den Ton angebende sexuelle Un-Kultur gewöhnt, in der Hoffnung, dass das große Glück auf diesem Gebiet eintreten kann. Und gerade betreffs dieser Hoffnung scheint das Wort besonders zuzutreffen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Obwohl die Realität völlig anders aussieht.

Herbert King