Direktor Michael Maas, Freiburg

Foto: Michael Maas

Richtet nicht

Neulich abends schaue ich noch Markus Lanz. Eigentlich immer ganz nett: interessante Gesprächspartner, lockere Runde. Auch diesmal fällt es mir nicht schwer, wach zu bleiben. Ministerpräsident Haseloff kippelt sich mit dem Moderator, eine Landrätin aus dem Bayrischen bringt eine neue Sicht in die Corona-Diskussionen, jenseits dessen, was man sonst immer so hört. Doch den Höhepunkt hat sich Markus Lanz bis zum Schluss aufgehoben – man soll ja auch dranbleiben. Den Oberbürgermeister von Halle, dem vorgeworfen wird, sich eine Impfung mit Corona erschlichen zu haben.

Es hätte ein ganz gewöhnliches Interview werden können. Aber es wurde ein Verhör. Bernd Wiegand schildert erst einmal ganz sachlich, wie er zur vorgezogenen Impfung kam. Es waren Impfdosen übrig, es gab eine Liste mit Leuten, an die der Impfstoff dann ausgegeben werden sollte und auf dieser stand sein Name. Man musste schnell handeln, weil ansonsten die Dosen verfallen wären. Er meinte auch, dass man kritisieren könne, dass sie im Krisenstab, den er leitet, auch den Stab selbst auf die Liste derer gesetzt hätte, die geimpft werden können. Als es aber dann darum ging, zu handeln, war das kein Thema mehr.

Für Markus Lanz war das auch kein Thema. Er hörte nämlich gar nicht zu. Er hatte sein Urteil schon gefällt. Das lautete: Schuldig. Hochgradig unmoralisch. Verwerflich. Mindestens Rücktritt. Mir kam der Gedanke, dass ein Verhör durch die Inquisition verglichen mit dieser Befragung ein gemütlicher Plausch gewesen sein muss.

Ich begann nachzudenken: Es fällt auf, dass seit einiger Zeit – spätestens etwa seit dem durch die Medien erzwungenen Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff, der sich dann als „unnötig“ erwies – das Bedürfnis bei nicht wenigen Journalisten da ist, jemanden zur Strecke zu bringen und entsprechend zu skandalisieren. Meine Wahrnehmung: Es geht bisweilen weniger darum, zu berichten, als vielmehr seine gute Gesinnung zum Ausdruck zu bringen, indem man sich im höchsten zur Verfügung stehenden moralischen Gestus über andere erhebt. Kritisieren darf man das natürlich nicht, denn wer wollte schon die journalistische Freiheit in Abrede stellen?

Diese ist ja auch in der Tat ein hohes Gut und zu Recht geschützt. Nur: Soll das dann dazu führen, dass Journalisten zu Richtern werden? Gegen die Selbstgerechtigkeit, mit der manchmal Journalisten auftreten, erscheint die päpstliche Unfehlbarkeit lächerlich. Warum muss recherchiert oder mit Betroffenen gesprochen werden, wenn man das Ergebnis doch eh schon kennt? Weshalb muss man anderen im Gespräch zuhören, wenn man ohnehin schon weiß, was sie sagen?
Was wir aus der Politik kennen, scheint nun auch in der Kirche angekommen zu sein. Ganz weit oben auf der Skala derer, auf die man sich gerade einschießt, steht Kardinal Woelki. Er hat das Gutachten einer Rechtsanwaltskanzlei zum Thema Missbrauch nicht veröffentlicht. Also ist er ein Vertuscher. Mehr Gedanken muss man sich dazu nicht machen. Es wird dann – wie wir das aus der Politik schon kennen – mit der Empörung der Menschen gespielt. Dass es gute Gründe dafür gegeben haben dürfte, das Gutachten zurückzuhalten, spielt dann keine Rolle mehr (mehr dazu: Thomas Fischer). Dass es außer der katholischen Kirche keine Organisation gibt, die auch nur annähernd so umfangreich aufklärt und niemand, der ein entsprechend ausgereiftes Schutzkonzept erarbeitet hat – wen kümmerts?

Wie ein richtiger Umgang mit anderen Positionen aussehen könnte, ist mir diese Woche an einer Wiese mit Krokussen aufgegangen. Ich habe sie dreimal fotografiert. Einmal von ganz unten, direkt aus der Sicht der Blume. Dann mit etwas Abstand, schließlich von ganz oben. Einmal sieht die ganze Wiese lila aus – am Ende ist viel mehr grün als lila zu sehen. Es kommt auf den Blickwinkel, den wir einnehmen, an, wie Dinge auf uns wirken.

Mich hat das zu einem Gedanken aus der Heiligen Schrift geführt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ (Mt 7,1) Wir sehen oft nur unsere beschränkte Sicht und meinen, das sei schon alles. Wie weit ist das von der Wirklichkeit entfernt!

Direktor Michael Maas
Leiter des Zentrums für Berufungspastoral, Freiburg

siehe Veröffentlichung: basis-online.net