Flucht – Claudia Möltgen
Sie laufen. Immer weiter, keiner darf still stehen. Sie wissen schon lange nicht mehr, wo sie sind, wohin sie laufen auch nicht so recht. Die Füße schmerzen, sie können kaum einen Schritt weiter, denn jeder Schritt tut weh. Und trotzdem müssen sie. Der Grenze entgegen. Welcher Grenze diesmal? Sie haben schon so viele Grenzen passiert. Eigene. Ländergrenzen. Grenzen der Menschlichkeit. Aber es bleibt keine Wahl, keine Zeit darüber nachzudenken. Sie müssen weiter. Denn hinter ihnen wartet nur der Tod. Egal wer von ihnen sich umsieht: Jeder von ihnen sieht Menschen, die Verluste hinnehmen mussten. Tote Eltern, Brüder und Schwestern, Kinder. Freunde, Familie. Überall die Trauer, Verzweiflung ist zu spüren. Körperlich. Niemand hier kann sich dem entziehen. Es ist so unerträglich kalt. Von innen und außen. Denn der Winter kommt, schleichend aber unaufhaltsam, spürbar! Und sie alle wissen, was das bedeutet. Es werden noch mehr von ihnen sterben, wenn sie nicht schneller werden. Wenn sie nicht bald den sicheren, unbekannten Hafen erreichen, wird die beißende Kälte sie einholen. Die Frauen wollen optimistisch bleiben. Der Kinder wegen. Die Männer tragen, was sie tragen können. Taschen, Rucksäcke, Kinder.
Leises Wimmern. Sie sind noch so klein und doch schon so weit gereist. Für sie ist die Gefahr am größten. Viele Kinder mussten bereits zurückgelassen werden. Verdurstet, verhungert. Sie waren zu laut. Haben geweint im falschen Augenblick. Ihre Mütter erkennt man in jeder noch so großen Masse. Der leere Blick, die Verzweiflung, die nur eine Mutter spüren kann, die um ihr Kind trauert. Man erkennt sie sofort, mitfühlen ausgeschlossen, aber man “spürt” nach.
Sie fliehen vor dem Tod. In ein besseres Leben und haben doch schon alles verloren. Ihnen bleibt nichts außer weiter zu laufen. In eine Zukunft, die ihnen kaum noch lebenswert erscheint.
Viviane Hansmann