Date:17. Mrz 2010

Kirche, Küng und Kabriolen

Zeichen der Zeit

Zeitungsartikel

AZ Mainz, Titelblatt 15.03.2010

Sexueller Missbrauch ist ein internationales Problem. Demnach haben 10 – 15 % der Frauen und 5 – 10 % der Männer als Kinder einmal einen erzwungenen sexuellen Körperkontakt erlebt. Für das Jahr 2008 listet die „Polizeiliche Kriminalstatistik“ 12.052 Fälle von „sexuellem Missbrauch von Kindern“ auf. In weiteren 1.615 Fällen wurde „sexueller Missbrauch gegenüber Schutzbefohlenen“ zur Anzeige gebracht. Die Zahlen sind seit 1994 leicht zurückgegangen. Die Dunkelziffer bei Kindesmissbrauch wird allerdings bis zu 30 Mal höher eingeschätzt. Demnach würden jährlich mehr als 400.000 Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Übergriffe.

Täter sind zu 96 % Männer, die älter als 21Jahre alt sind. Opfer sind meistens Mädchen. Jeder Vierte der in Internaten missbrauchten Kinder ist ein Junge. In der öffentlichen Diskussion der letzten Wochen werden die vermeintlichen Ursachen dieser schweren Problematik sehr emotional diskutiert. So glauben mittlerweile fast zwei Viertel aller Bundesbürger, dass der Zölibat im Zusammenhang mit den bekannt gewordenen Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen steht. Diese Ansicht wird gestützt von so klugen Leuten wie Küng und Frau Ranke-Heinemann. Dennoch bleibt es ein Glaube, der jeglicher empirischen Grundlage entbehrt. Der Psychiater Manfred Lütz verweist auf ein internationales Expertenteam, das 2003 „keinerlei Zusammenhang dieses Phänomens mit dem Zölibat“ feststellte. Die Fachleute gehörten allesamt nicht der katholischen Kirche an.

Aber in diesen medial aufgeheizten Tagen wird momentan alles in einen Topf geworfen: Pädophilie, verklemmte Sexualmoral, Kinderpornographie, Missbrauch und Misshandlung – und eben der Zölibat. Pädophil wird man nicht, wenn man ehelos lebt. Sexuelle Neigungen entstehen in der Adoleszenz. Mit 16 Jahren sind diese Neigungen so fest im Gehirn verankert, dass sie in der Regel nicht mehr zu ändern sind. Viele Pädophile beobachten die Kinder nur oder berühren sie an den Haaren. Bei den wegen sexueller Vergehen an Kindern verurteilten Straftätern machen Pädophile nur 12 – 20 Prozent aus.

Wie kommt es dann aber zu Übergriffen? Interessanterweise braucht der Pädophile gar keine einschlägigen Internetseiten aufzurufen, um sich zu stimulieren. Ihm genügt seine eigene Phantasie: das Kopfkino ist viel wichtiger als Internetvideos. Das erklärt auch, warum es schon in den 1950er und -60er Jahren sexuelle Übergriffe gab. Damals gab es weder Privatfernsehsender noch Internet. Würde man von den Tätern ein Profil erstellen würde man Folgendes finden: Sie hatten keine schöne Kindheit. Die Mutter zeigte ihnen gegenüber wenig Einfühlungsvermögen. Manche wurden vom Vater oder anderen männlichen Personen sexuell missbraucht. Das familiäre Klima war auch von körperlichen Misshandlungen geprägt. Als Kind waren die späteren Täter oft extrem schüchtern und ängstlich. Sie lernten nicht, wie man mit Belastungen umgeht, und sie lernten nicht, wie man liebevolle Bindungen zum Nächsten knüpft.

Als Erwachsene erleben sie dann – wie jedermann – auch manche schlechte Zeiten. Aber während das stressige Leben der anderen herunter reguliert wird, fehlt ihnen selbst die Kompetenz zur Selbst-Beruhigung. Unangenehme Gefühle und Grübeleien prägen den Alltag. Die betreffenden Männer greifen in diesem Fall zum Alkohol. Manchmal auch zu Tabletten. Das beruhigt einerseits, aber andererseits fallen auch die Hemmungen. Sexuelle Impulse, die jeder in sich trägt, brechen bei ihnen durch. Das Kopfkino geht los. Wenn dann noch Einsamkeit ins Spiel kommt, weil der betreffende Mann alleine und ohne Bindungen lebt, kann es gefährlich für andere werden. Weil man sich selbst klein und schwach fühlt, aber sich unter Alkohol ein bisschen stärker fühlt, wendet man sich gegen die Schwachen, die Kleinen: die Kinder. Tatsächlich sind die Opfer der Pädophilen meist jünger als 13 Jahre.

Haben Sie davon in den letzten Tagen in der Zeitung gelesen?
Wahrscheinlich nicht.

“Sexueller Missbrauch von Kindern ist kein spezifisches Problem der katholischen Kirche”, sagte Erzbischof Zollitsch, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, jüngst der “Welt am Sonntag”. Missbrauch habe weder etwas mit dem Zölibat zu tun noch mit Homosexualität oder mit der katholischen Sexuallehre. Er hat Recht. Aber es reicht nicht zu sagen, welche Faktoren nicht schuld sind. Wichtig ist, die Dinge zu nennen, die wir bereits wissen. Leider wissen wir vieles noch nicht. Da würde ich mir einen runden Tisch wünschen, an dem nicht nur Politiker und Bischöfe sitzen, sondern auch Polizisten und Psychologen. Und das Fernsehen und die Bild-Zeitung bräuchten gar nicht dabei sein.

 

Klaus Glas
Psychologe