Wie fühlt sich das Leben bei uns heute an – 2022? Da ist einerseits das berechtigte Selbstbewusstsein, nach 1945 und 1989 in einem vereinigten, demokratischen, ziemlich wohlhabenden Deutschland und in einem europäischen Haus zu leben. Mitunter wird den Deutschen aber vorgeworfen, gern den Ober-lehrer zu spielen und sich in überheblicher Manier für besser zu halten, obwohl sie für viele Übel – Vermüllung, Ausbeutung, Waffenexporte, Umweltzerstörung u.a. – mitverantwortlich seien.
Hinter der vermeintlich vorbildlichen Fassade zeigen sich bei genauerem Hinsehen tatsächlich auch Ängste, Heuchelei, Verbissenheit und Spaltungen. Die Art und Weise des Umgangs mit anders Denkenden lässt besonders in den Medien zu wünschen übrig. Es wird eine Unversöhntheit und latente Gereiztheit offenkundig. Wenn entsprechende Anlässe da sind wie etwa Flüchtlingsströme, Pandemie oder Wahlen, entlädt sich diese Gefühlslage in immer neuen Empörungswellen und Spiralen bis zu Degradierung und Verachtung der anderen. Es braucht unbedingt einen anderen Geist. Wie könnte er sein?
Als erstes fällt mir das Wort „Menschlichkeit“ ein – sowohl tatkräftig in der Hilfe als auch wert-schätzend im Umgang: Demut, die durch Zuwendung und Respekt Vertrauen schafft. Man kann ja verschiedene Meinungen haben und sich trotzdem quasi familiär zusammengehörig empfinden. Es ist so wichtig, lieber zusammen auf dem Weg zu bleiben, das heißt, Mitmenschen nicht zu Feinden abzustempeln, sondern im Dialog als Freunde zu gewinnen und dann Sachprobleme kooperativ zu lösen. Von diesen Sachproblemen tragen wir bei uns und weltweit eine Menge vor uns her – sowohl in der Politik als auch in den Kirchen. In beiden Fällen geht es dabei vor allem um mehr Transparenz und darum, viel mehr als bisher unser Tun und Lassen zur Diskussion zu stellen. Aber auch dann wird es nicht zu vermeiden sein, Ambivalenzen und Unsicherheiten und die Tatsache, dass sich andere nicht überzeugen lassen, auszuhalten.
Was kann die christliche Botschaft zu diesem Wandlungs- und Lernprozess beitragen? Im Christentum helfen Christusfreundschaft und die Gewissheit vom anbrechenden Gottesreich zu einer wohlwollend-ehrfürchtige Freiheitshaltung jeglicher anderen Art gegenüber. Anti-relativistisch in allem irdischen Mühen und gleichzeitig gebunden zu sein an den absoluten Gott – das kann eine säkulare Gesellschaft, sofern sie es zulässt, entlasten, befreien, aufhorchen lassen.