Ein neues Gesetz will ich euch geben

Zeichen der Zeit

Stern über einer Stadt

 

Zum sechzigsten Jahrestag der Verkündigung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für den neu zu gründenden Staat “Bundesrepublik Deutschland” verkündet. Bei der Wiedervereinigung 1989-1991 wurde es selbstverständlich auch von den Repräsentanten der Bürger der ehemaligen DDR übernommen. Und es wurde dann auch ihr Grundgesetz, was es von Anfang an ja sein wollte, aber lange nicht durfte. Das Grundgesetz aller, die in den Grenzen der heutigen Bundesrepublik Deutschland leben, der Deutschen wie der Angehörigen anderer Völker, die bei uns leben, arbeiten, lieben und hoffen. Und wir hoffen, dass die Grenzen für die nächsten Jahrhunderte stabil bleiben und wir in dem Haus Bundesrepublik Deutschland als unserem Haus in Frieden leben dürfen. In vielen Gedenkveranstaltungen, auch Gottesdiensten wird in diesem Jahr der sechzigsten Wiederkehr dieses bedeutenden Tages gedacht.

Grundgesetz eines neuen Menschen. Die wichtigsten Aussagen dieses neuen Gesetzes beziehen sich auf die Grundrechte des Menschen, auf die Unantastbarkeit seiner Würde.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht” (Artikel 1).

Der erste Artikel des Grundgesetzes formuliert damit gleichsam das Thema des Ganzen. Alles wird sich an diesem ersten Satz zu messen haben. Er kann weder verändert noch abgeschafft werden, auch wenn deswegen Schwierigkeiten entstehen, und es manchmal naheliegender sein sollte, ihn der Staatsräson oder eventuell auch der Sicherheit zu opfern. Nicht immer ist es leicht, dies richtig einzuschätzen. Nur entsprechende Gesetze können in schwerwiegenden Fällen diese Grundrechte beschneiden. Dabei steht die Voreinstellung auf der Seite der Grundrechte und nicht auf der Seite ihrer möglichen Beschneidung. Die Notwendigkeit der Einschränkung muss nachgewiesen werden, nicht ihre Gültigkeit.

In neunzehn Artikeln werden die Grundrechte ausgefaltet: freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Meinungsfreiheit, freie Berufswahl, Recht auf Eigentum, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung usw. Alle diese Rechte sind nicht allgemeine Absichtserklärungen, sondern unmittelbar geltendes Recht.

Wenn ich diese Artikel in einer besinnlichen Stunde wieder einmal lese, dann stellt sich schnell eine Art Ergriffenheit ein. Und man kann nur hoffen, dass wir ein solches Gesetz nie vergessen oder leichtsinnig aufs Spiel setzen. Im Zentrum steht der Mensch, seine Würde, seine Rechte. Auch der ganz einfache Mensch, der arme, der kranke hat diese und soll bei ihrer Durchsetzung auf die Hilfe der staatlichen Gemeinschaft hoffen können.

Das ist im Vergleich zur Weltanschauung und Praxis des eben zugrundegegangenen Nazismus ein ganz und gar neuer Akzent. Dieser hat die Rechte und die Würde des Einzelnen in einer bis dahin und auch heute noch unvorstellbarer und unglaublicher Weise zertreten. In unzähligen Fällen sind sie freiwillig, allzu freiwillig zum Opfer gebracht worden. Und Deutschland ist durch Gehorsam, nicht durch Freiheit zu Grunde gegangen. Es ist aber auch auf dem Hintergrund der Geschichte überhaupt ein neuer Akzent. Nur allmählich und mit vielen Rückschlägen hat die Menschheit Sensibilität für die Würde und Rechte jedes Menschen entwickelt. Stets war dies Privileg nur einzelner. Auch beim Blick auf die Mehrzahl der anderen Länder und Staaten dürfen wir sagen, dass wir uns in einer sehr privilegierten Situation befinden. Was im Grundgesetz ausgesprochen und angeordnet ist, das will im alltäglichen Leben als Ethos von uns allen verwirklicht werden.

Joseph Kentenich hat gleich zu Beginn seines Wirkens (1912) die Notwendigkeit der Formung eines neuen Menschen proklamiert, der “frei und stark” ist, “selbständig und selbsttätig”. “Wir sind uns unserer Würde bewusst”, lässt er seine Schüler in der “Vorgründungsurkunde” (1912) sagen. Dieser Vortrag gehört zum Grundgesetz seiner Bewegung. Das Grundgesetz unseres Staates und das Grundgesetz dieser Bewegung atmen also den gleichen Geist.

Eine neue Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Mensch und seine Würde sind die “Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt” (Artikel 1). Das neue Gesetz ist auch ein Recht der Gemeinschaft und für diese. Nur wenn der einzelne seine Rechte, seine Selbstentfaltung und seine Würde begrenzt weiß durch die Rechte, die Würde und die Selbstentfaltung des Mitmenschen und er diese Begrenzung anerkennt, kann es zu einem menschenwürdigen Leben aller kommen. Sonst ist das Recht des einen das Unrecht des anderen, die Würde des einen die Unwürde des anderen.

Dies wird durch das Gesetz zwar verboten. Aber ein Land, das nur davon leben würde, dass der Wortlaut des Gesetzes erfüllt wird, ist dann doch wieder ein Unrechtsland. Auch wenn die Gesetze noch so gut sind. Es siegt dann doch der Starke und der Skrupellose. Dieser kann es fertig bringen, auch noch im Unrecht das Gesetz auf seiner Seite zu haben, weil er es an der wahren Absicht des Gesetzes vorbei für sich auszunutzen versteht.

Auch an dieser Stelle geht es um die Umwandlung des Grundgesetzes in ein persönliches Ethos. Das Grundgesetz will als ein neues Gesetz in das Herz aller geschrieben werden. Der neue Staat will ja Gemeinschaft gerade nicht in erster Linie durch Zwang schaffen und erreichen, sondern durch die Einsicht und freie Tat des Enzelen. Jeder soll nicht nur die Rechte des Mitmenschen anerkennen, sondern darüber hinaus sich verantwortlich wissen für das Gemeinwesen und das Gemeinwohl. Der neue Mensch will und soll gleichzeitig in einer neuen Gemeinschaft stehen. Dies soll ihn ebenso charakterisieren wie sein Selbstbewusstsein und seine persönliche Würde.

Das bezieht sich auf das vielfältige Beziehungsnetz der Gesellschaft, bestehend aus Ehen, Familien, Freundeskreisen, sportliche Gemeinschaften, Berufswelt, Wirtschaft, Schule, bewusstseins- und meinungsbildende Bewegungen und Organisationen, Interessenvertretungen, Bürgerinitiativen, kulturelles, intellektuelles Leben, religiöse Bewegungen, aktives und passives kirchliches Leben… Und es bezieht sich auf den direkt staatlichen Bereich (Partei, Gemeinde, Kreis, Land, Bund, internationaler Bereich). Hier ist ein Ethos der Mitbeteiligung, der Verantwortung, der Gerechtigkeit und ein hoher und stark entwickelter Sinn für das Wohl der Mitmenschen von erstrangiger Bedeutung. Wir dürfen stolz sein auf die ungewöhnliche Vielfalt von Gemeinschaftszusammenschlüssen in unserem Land, auf das ehrenamtliche Engagement eines so großen Teils unserer Bevölkerung und auf die aktive Mitwirkung so vieler Mitbürger und Mitbürgerinnen in vielfältigsten Gremien und Initiativen.

Der neue Staat ist eine Demokratie. Diese bedeutet nicht nur Schutz der Rechte des Einzelnen, sondern ebenso Verantwortung und Mitbeteiligung. Und Demokratie ist nicht nur eine Staatsform. Sie ist als Gemeinschaftsform in allen soziologischen Gebilden von Bedeutung. Im Laufe der Geschichte unserer Bundesrepublik ist dies immer deutlicher geworden. Man hat immer mehr Demokratie gewagt.

Das rechte Verhältnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft ist nie ganz einfach zu definieren. In jedem sollte aber die stets wirkende Frage nach diesem Verhältnis wie ein schöpferisches Prinzip das Denken und Handeln bestimmen und ein auf die Gemeinschaft hin geöffnetes Ethos dauernd neu hervorbringen. Und jeder muss sich gerade an dieser Stelle fragen, inwieweit das Verhältnis von Selbstverwirklichung, bzw. Selbstdarstellung eines Einzelnen oder einer Gruppierung auf der einen Seite und der Dienst bzw. die mitgestaltende Verantwortung am Gemeinwesen auf der anderen Seite in Ordnung ist.

Herbert King