Date:09. Nov 2011

Eigene Identität und Vielfalt der Zeitenstimmen

Zeichen der Zeit

Labyrinth Chartres

Labyrinth Chartres, vom Gewölbe aus gesehen
Foto: H. Brantzen

Zeitenstimmen beobachten, sie als Gottesstimmen deuten, und Folgerungen daraus ziehen, ist – seit Jahren kann ich schon sagen – das Ziel meiner Beiträge zum Programm der “Spurensuche”. Heute soll rückblickend und um mich blickend etwas über den geistig-seelischen Raum gesagt sein, in dem wir diese Stimmen wahrnehmen. Jede der zu beobachtenden Zeitenstimmen schreibt sich in einen irgendwie vorgegebenen epochalen Rahmen oder Feld ein, in eine Zeitepoche, ein mehr oder weniger allgemeines Lebensgefühl und Bewusstsein. Objektiver Geist einer Zeit auch genannt.

Es ist der geistig-seelische Raum, der in den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in rasanter Geschwindigkeit sich in den westlichen Gesellschaften aufbaute und vor allem die bis dahin weitgehend noch vorhandenen katholischen Räume fast über Nacht veränderte, ja regelrecht auflöste. Dieser neue Raum ist durch drei Vorgänge und Konstanten gekennzeichnet. Diese sind: Pluralismus, Psychologie als Welt- und Lebensanschauung und Verlust der selbstverständlichen, bindenden Tradition. Gerade die Kirche lebte von der selbstverständlich bindenden und tragenden Tradition eines geschlossenen, nicht pluralen geistig-seelischen Raumes. Und eine psychologische Betrachtungsweise der theologisch-philosophisch-ethisch formulierten “objektiven”, d.h. für alle verpflichtenden Wahrheiten, gab es nicht. Nicht in erster Linie weil es verboten gewesen wäre. Es war kulturell noch nicht “dran”.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat zwar über diesen eben skizzierten Rahmen in manchem hinausgedacht. Doch blieb ihm das damit verbundene Lebensgefühl weitgehend fremd und war allenfalls als etwas zu Bekämpfendes präsent, aber (noch nicht) als eine zu inkulturierende Realität. Die das Konzil gestaltenden und denkenden Bischöfe und Theologen kamen noch aus dem alten Kirchen- und Kulturhintergrund. So konnte das Konzil unter “Pastoral” die bessere Darstellung der Lehre verstehen. Bis heute bewegt sich im Wesentlichen das pastoral-theologische Denken in diesem Rahmen. Das Konzil hatte allerdings für die neue Lebensgefühls- und Bewusstseinslage sozusagen ein Schleuse geöffnet, so dass sein theologischer Gehalt fast in den Hintergrund trat.

Die inzwischen schon nicht mehr so neue Zeitlage bringt einen neuen Menschentyp hervor und setzt diesen gleichzeitig voraus. Dem “neuen” Menschen geht es in erster Linie um Identität und nicht um objektive Wahrheit. Wie finde ich meinen Weg in der endlosen Vielfalt? Weiter: Er will lernen, auf seine Seele, nicht nur auf seinen Verstand, zu hören, ihre Stimmen zu deuten. Und immer mehr Menschen können dies. Sein Selbst, seine Identität und auch Gott spricht in ihr und aus ihr. Und er darf Traditionen übernehmen, soweit sie zu seiner Identität passen, aber auch selbst solche schaffen. Doch ist er frei diesen gegenüber. Wenn ein solcher Mensch sich dem Stimmengewirr der Zeit aussetzt, so kann er dies in dem Maße gefahrlos und sogar fruchtbar tun, als er mit einiger Sicherheit in seiner Identität ruht. Ganz ohne Verunsicherungen mag es nicht immer gehen. Doch können diese Bereicherung, Wachstum, Dynamik und Jugendlichkeit bedeuten ein Leben lang. Und dabei findet auch immer wieder eine Begegnung mit dem Gott der Geschichte statt (Zeitenstimmen sind auch Gottesstimmen). Und die Zeit wird dem Menschen mehr und mehr zur (auch religiösen) Heimat.

 

Herbert King

 

Vgl. Herbert King: Neues Bewusstsein. Spuren des Gottesgeistes in unserer Zeit. Patris, Vallendar-Schönstatt 1995.

  

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