Dr. Christian Hennecke

Capitol in Waschington
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Die Offenbarung des Zeitgeistes

Es ist abends, kurz vor dem Weg ins Bett. Da lese ich die Nachrichten vom Sturm auf das Capitol, da sehe ich das Video von Trump und erinnere mich an die Aufforderungen zur Gewalt und die alltäglichen fakenews. In den kommenden zwei Stunden verfolge ich ungläubig einen amerikanischen Kanal mit ebenso ungläubigen und entsetzten Moderatoren. Dieser Abend lässt mich nicht gut schlafen.

Was Diktatoren und verrückte Machthaber können und tun, was in der Machtgier alles geschieht und gerechtfertigt wird, welche Unterwelten und Abgründe dabei sichtbar werden, das kann nicht wirklich überraschen. Es ist auch nicht nur heute so – es geschieht zu allen Zeiten. Und immer wirkt der Zeitgeist und offenbart in aller Ambivalenz, wozu Menschen fähig sind. Zwischen der Leidenschaft eines Aufbruchs und Protests der Greta Thunberg und der offensichtlich alles andere beiseitedrängenden Machtbesessenheit von Akteuren in China, Nordkorea und den USA liegt die ganze Palette der Menschlichkeit und Unmenschlichkeit aller Zeiten.

Niemand möge sagen, dass wir Christen das nur von außen betrachten. Was ist mit den Jesus-Fahnen bei den Aufständischen auf dem Capitolshügel? Was ist mit den Machtkämpfen und Intrigen zwischen Kardinälen, die sich auch in Bistümern und auch in Gemeinden abspielen? Wie fühlen sich eigentlich Diskussionen in sozialen Netzwerken an, in denen wechselseitig Unglaube unterstellt. Ja, und leider: wer den ekelhaften Diskussionen in den Kommentarspalten von kath.net folgt, muss leider auch zur Kenntnis nehmen, dass manche Diskussion um den synodalen Weg auch in anderen Bubbles ähnlich geführt wird. Wir leben in einer Zeit, in der die Wunden freiliegen, die Wut sich entgrenzt zeigtMacht von allen Seiten ausgeübt wird – und populistisch Gericht gehalten wird. Wie es wirklich ist, ist nicht immer leicht erkennbar.

Es ist nicht leicht, dem Risiko populistischer Kampfrhetorik zu entgehen. Es ist nicht leicht, dieser Polarisierung und den einfachen Frontstellungen zu entgehen. Und doch ist es wichtig.

Die Offenbarung des Johannes, letztes Buch der Bibel, öffnet den Blick. Hier ist ein grauenvoller und brutaler Endkampf zwischen Gut und Böse, Gott und dem Dunkel im Blick. Und gleichzeitig wird deutlich, dass all dies nur ein Einblick in unsere Wirklichkeit ist – unter der verhüllenden Decke der Oberfläche des Alltags. Was wir erleben, ist nichts neues, sondern Grundwirklichkeit unserer Welt, aber… in der wir mit einer Hoffnung leben. Oder nicht?

Und dann kommt es darauf an, ob wir inmitten diesem – heute mal wieder deutlicher werdenden – Schlachtgetümmel dem Aufruf des Evangeliums folgen: „Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen…“! Was würde das bedeuten?

Unsere Zeitgenossenschaft würde sich darin äußern, dass wir nicht unbewusst oder absichtsvoll kopieren, was wir erschreckend erleben. Was ist mit einer Kultur des Streitens, die nicht dem Anderen Machtagenden unterstellt? Was ist mit einer Kultur der Wahrheit, die die sozialen Medien zum Ort der achtsamen und kontroversen Begegnung werden lässt? Was ist mit einer Kultur des gemeinsamen Suchens nach einer gemeinsamen Zukunft? Was wäre, wenn es eine Freude an unterschiedlichen und schier inkompatiblen Wegen gibt?

Aber wo wären auch die Grenzen? Denn sie müssen gezogen werden! Nein, Gewalt geht gar nicht. Machtmissbrauch will offengelegt werden. Der Andere darf durch Worte nicht getötet und zum Schweigen gebracht werden – auch das ist (medialer) Machtmissbrauch. Und Unrecht kann sich nie aufs Evangelium stützen. Und schließlich: das Verwirren der Wahrheit gehört schon immer zu den Spezialitäten der dunklen Mächte.

 

Dr. Christian Hennecke
Hildesheim