Der Durchgang durch das Alte Testament wird in diesem gottesdienstlichen Konzept fortgesetzt mit dem großen Thema des Brudermords von Kain und Abel. Abels Blut schreit zu Gott. Doch das Blut Christi bringt Vergebung anstelle von Verdammnis, Versöhnung statt Vertreibung.
Bild: Der Brudermord
Koberger Bibel, 1483
Buchmalerei
Priesterseminar St. Peter, Schwarzwald
Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer.
Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?
Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.
Erinnert euch also, dass ihr einst Heiden wart und von denen, die äußerlich beschnitten sind, Unbeschnittene genannt wurdet. Damals wart ihr von Christus getrennt, der Gemeinde Israels fremd und von dem Bund der Verheißung ausgeschlossen; ihr hattet keine Hoffnung und lebtet ohne Gott in der Welt. Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder..
Du hast uns erlöst mit kostbarem Blut, das mächtiger ruft als das Blut Abels.
Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache!
Da rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!
Darauf ließ er Barabbas frei und gab den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen.
Die Thematik der früher so populären „Blut- und Wundenlieder“ findet sich heute eher selten in unseren Gesangbüchern, so etwa in dem Text von Christoph Fischer (vor 1568) Gotteslob Nr. 297, Strophe 1:
Wir danken dir, Herr Jesu Christ / dass du für uns gestorben bist / und hast uns durch dein teures Blut / gemacht vor Gott gerecht und gut.
Auch im Evangelischen Gesangbuch wird die Thematik der Wunden und des Blutes Christi besungen. So im Lied „Ich habe nun den Grund gefunden“ (EG 354,4), dessen Text von Johann Andreas Rothe (1727) stammt:
O Abgrund, welcher alle Sünden
Durch Christi Tod verschlungen hat!
Das heißt die Wunde recht verbinden,
da findet kein Verdammen statt,
weil Christi Blut beständig schreit:
Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!
Diese Liedstrophe schlägt den gleichen Ton an, wie der geistliche Text von Thomas Hieke. Nicht Anklage und Schuldzuweisung, sondern Versöhnung und Vergebung von Schuld bringt das Blut Christi.
Literaturhinweis: Joachim Illies (Hrsg.), Brudermord. Zum Mythos von Kain und Abel, München 1975.
Claude Lanzmann, Shoah (Text des Drehbuchs aus dem Franz. von Nina Börnsen), München 1988.
Magda Motté, „Brudermord als abendländische Tradition“. Kain und Abel – Urmuster zwischenmenschlicher Konflikte, in: Heinrich Schmidinger, Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. II, Mainz 1999,64-79.
Die erste Sünde ist geschehen, zugleich das Schlimmste, was man sich bis heute vorstellen kann: ein Brudermord. Abel, der die Vergänglichkeit schon im Namen hat, der „Windhauch“ bedeutet, ist nun tot. Kann sich der tote Abel nicht mehr wehren, so schreit doch sein Blut zu Gott vom Ackerboden! Und Gott hat ein Ohr für das Opfer. Der Täter – Kain – wird zur Rechenschaft gezogen. Gott vergisst die Opfer, wie der Psalm festhält, nicht.
Doch wie kann ein Ausweg gefunden werden? Gott selbst weist den Weg zur Versöhnung – und das Blut spielt als „roter Faden“ darin die Hauptrolle.
Wenn der Hohepriester am Großen Versöhnungstag, am Jom Kippur, das Blut des Ziegenbockes von „draußen“, vom Alltag der Menschen, ins Allerheiligste vor Gott bringt, dann ergibt sich eine „rote Linie“ des Blutes, die Gott und Menschen verbindet – als Zeichen für Leben und Versöhnung.
Die Lebenskraft des Blutes wird auch im Neuen Testament zum Weg der Versöhnung. Es fließt doch noch einmal Blut, kostbares Blut, Menschenblut, das Blut des Menschensohnes. Aber ist das jetzt einfach wieder die Kain-und-Abel-Geschichte? So wurde die berühmt-berüchtigte Stelle aus dem Matthäusevangelium jahrhundertelang gelesen – in verhängnisvoller antijüdischer Tendenz. Wie einst das Blut des Abel vom Ackerboden zu Gott schrie, und Gott den Kain zur Rechenschaft zog, so sei das Blut des Gottessohnes Jesus auf das jüdische Volk gekommen; das Volk habe sich für schuldig erklärt am Tod Jesu. Ein blutiges Missverständnis und Verbrechen, das zu millionenfachem Blutvergießen geführt hat!
Man hat dabei vergessen (oder vergessen wollen), dass Gott dem Blut eine andere Rolle zuschreibt. Das Blut Jesu ist das Blut der Versöhnung aus der Mitte der Tora – in Ablösung der Tieropfer erwirkt das Blut Christi mit seiner Lebenskraft die Versöhnung.
Der Epheserbrief erwähnt ausdrücklich das Blut Christi, das die versöhnende Kraft entfaltet: Dieses Blut holt die Fernen, die „Heiden“ in die Nähe Gottes, dieses Blut verbindet die Getrennten und reißt die trennende Wand der Feindschaft nieder. Christen sind also mit den Menschen jüdischen Glaubens im wahrsten Sinne des Wortes „blutsverwandt“, sie sind unsere älteren Brüder und Schwestern. Das Blut Jesu Christi wird damit zum Symbol für das Leben: Das Vergießen dieses Blutes muss nicht gerächt werden, vielmehr müssen wir uns konsequent für Versöhnung, für Frieden und Überwindung von Feindschaft einsetzen. Das Blut Christi, das uns in jeder Eucharistiefeier das große Versöhnungswerk Gottes ins Gedächtnis ruft, drängt uns dazu.
Auszüge aus einer Predigt von Prof. Dr. Thomas Hieke
(Wort-Gottes-Feier am 26.9.2014, Karmeliterkirche Mainz)
Zusammenstellung: Hans-Jakob Becker / Anne-Madeleine Plum Dieser Gottesdienst: 4 Pen a in Patmos Vgl. dazu ausführlich: Hansjakob Becker, „Dies große Wort, geschrieben weiß auf schwarz“. Patmos: Begegnungen mit der Bibel im Kontext von Kultur- , in: Pietas Liturgica 16, Tübingen 2015.
* Texte aus der Heiligen Schrift sind entnommen aus der Einheitsübersetzung © 1980, Katholische Bibelanstalt GmbH.